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Die Wahrheit stirbt zuletzt

Die Wahrheit stirbt zuletzt

Titel: Die Wahrheit stirbt zuletzt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leif Davidsen
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stempelt den Bogen Papier mit drei verschiedenen Stempeln ab und legt ihn mit einer vorsichtigen, beinahe femininen Handbewegung zur Seite. Dann nimmt er ein weiteres Dokument auf, das er sorgfältig zu studieren vorgibt, bevor er Irinas Vater fragt, ob dieser die Anklageschrift verstanden habe. Das hat er. Er antwortet laut und deutlich mit Ja. Er hat eine tiefe und melodische Stimme. Vielleicht hat Irina ihre Musikalität von ihm geerbt.
    Magnus erinnert sich plötzlich daran, wie glücklich sie zusammen gesungen hatten, als sie mit dem Auto auf dem Weg nach Albacete gewesen waren. Es kommt ihm vor, als wäre es eine Ewigkeit her, dass Irina, Joe und er so unbekümmert das Lied der Brigadisten gesungen und die beiden ihn anschließend überredet hatten, ihnen einen argentinischen Tango vorzusingen. Magnus sieht Irinas Haare in dem milden spanischen Wind vor sich und ihren roten Mund, der lächelt, während ihre Augen ihm und Joe neckend zuzwinkern, weil sie es genießt, wie die beiden sie anhimmeln. Er hätte niemals gedacht, dass das Unglück ihnen schon hinter der nächsten Ecke auflauern könnte.
    »Bürger Nikolai Sergejewitsch Schapatowo. Wie verhalten Sie sich zu den Anklagepunkten?«, fragt der Richter jetzt.
    »Ich bin mit den Anklagepunkten einverstanden. Ich gestehe meine Verbrechen. Ich gestehe, von den imperialistischen Geheimdiensten in London angeworben worden zu sein. Ich gestehe, gegen Kamerad Stalin konspiriert zu haben und, inspiriert vom Ungeheuer Trotzki, unser sozialistisches Vaterland schlechtgemacht und die Entscheidungen kritisiert zu haben, die Kamerad Stalin als unser großer unfehlbarer Führer getroffen hat. Ich gestehe, gegen Artikel 58 verstoßen zu haben.«
    »Wird dieses Geständnis freiwillig und ohne Zwang abgelegt?«
    »Dieses Geständnis wird freiwillig und ohne Zwang abgelegt. Die wachsamen und vorbildlichen Männer des NKWD, dem ich selbst gedient habe, bis Trotzki und die Mitläufer dieses Kryptofaschisten mich auf Abwege gelockt haben, haben sich mir gegenüber diszipliniert, höflich und mit dem Anstand verhalten, den unsere sowjetische Rechtsordnung vorschreibt.«
    »Haben Sie, Bürger Schapatowo, Ihre Verbündeten bei dieser grausamen Verschwörung offengelegt?«
    »Nein. Es gibt keine weiteren Verbündeten in unserem Land. Aufgrund des schnellen Eingreifens der Tschekisten ist es mir nicht gelungen, Mitstreiter für meine trotzkistischen Putschpläne zu gewinnen.«
    »Verstehe«, sagt der Richter und blickt abwartend in die Runde, als hätte er damit gerechnet, dass der Bürger noch mehr auf dem Herzen haben müsste.
    Magnus hat noch nie Menschen gesehen, die man so gründlich zerstört hat wie diesen Vater und seinen Sohn, die er hier sitzen sieht. Oberflächlich betrachtet sehen sie aus wie Menschen, aber es sind in Wahrheit Menschen ohne jeden Willen. Es sind zwei Gestalten aus Fleisch undBlut, die man so programmiert hat, dass sie noch einige letzte Worte sprechen, bevor der Tod sie von ihren Qualen erlöst.
    Irina kann ihre Tränen nicht länger zurückhalten, aber sie weint tonlos. Die missmutige Frau und der Riese, die neben ihr sitzen, blicken starr vor sich hin. In dem großen Saal herrscht nahezu vollkommene Stille, sodass jedes kleine Geräusch deutlich zu hören ist. Ein Husten, ein Räuspern, Füße, die auf dem Boden scharren, ein Niesen. Alle warten geduldig und trotzdem gespannt.
    »Möchten Sie dem noch etwas hinzufügen, Bürger Nikolai Sergejewitsch?«, fragt der Richter schließlich.
    Irinas Vater blickt von seinen Händen auf und sieht für einen Moment verwirrt aus. Er lässt seinen flackernden Blick durch den Saal schweifen, und Magnus sieht, dass er seine Tochter entdeckt hat, denn seine graue Haut wird auf einmal ganz weiß. Für einen kurzen Augenblick leuchten seine Augen, dann aber blickt er wieder nach unten auf seine Hände. »Kamerad Richter, Kamerad Staatsanwalt, Kameraden im Saal, verehrte ausländische Gäste unserer Stadt«, sagt er tonlos, als trüge er einen auswendig gelernten Text vor, »ich weiß, dass ich nicht länger das Recht habe, euch Kameraden zu nennen, weil ich euch und Kamerad Stalin verraten habe, das größte Genie der Menschheit und den Wohltäter des sowjetischen Volkes, aber ich tue es aus Respekt vor euch. Ich verdiene eure Gnade und eure Vergebung nicht, aber ich bitte euch dennoch darum. Nicht so sehr für mich selbst, sondern für meinen Sohn, den ich vom rechten Weg abgebracht und auf den hasserfüllten Weg

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