Die Wahrheit stirbt zuletzt
Kostümjacke und des diskreten Tuchs um den Hals sieht er, dass sie abgenommen hat.
Sie ist nur noch ein schwacher Abglanz der kessen Frau in Hemd und Hose, die verführerisch eine Zigarette zwischen den hübschen roten Lippen stecken hat. Von den kräftigen Farben Spaniens ist nichts mehr übrig. Sie ist so weiß im Gesicht wie der frisch gefallene Moskauer Schnee. Ihre geliebte Leica hat sie auch nicht bei sich. Natürlich nicht, und trotzdem ist es seltsam, sie ohne Kamera zu sehen. Es schmerzt ihn besonders, weil sie sie immer wie ein Schmuckstück um den Hals getragen hat – wie etwas, das untrennbar mit ihr verbunden war, das sie überallhin begleitet hat, als ein Teil ihrer Identität und als Statussymbol.
Sein Herz weint um sie. Magnus weiß nicht, wie er sie dazu bringen kann, zu ihm herüberzusehen. Er sieht, wie schlecht es ihr geht, und er sieht auch, dass von ihrer erotischen Aura nur noch ein schwaches Glimmen übrig ist, das bald ganz verglüht sein wird. In den wenigen Wochen, die seit Spanien vergangen sind, hat sie sich unglaublich verändert. Er spürt, wie sehr das Ganze sie quält, und es schmerzt ihn ungemein. Magnus kann sich nicht erinnern, in seinem Leben je einen derartigen Schmerz empfunden zu haben. Er fürchtet, seine Sehnsucht nach ihr und seine Ohnmacht angesichts dessen, was seine Geliebte quält, könnten ihn körperlich krank machen.
»Irina. Ich bin es«, ruft er auf Spanisch. Alle drehen sich zu ihm um, aber es kümmert ihn nicht, und er ruft noch einmal. Ihre Blicke begegnen sich, aber sie lächelt nicht. Stattdessen schüttelt sie beinahe unmerklich den Kopf, presst sich die zur Faust geballte Hand vor den Mund und sieht weg. Die Frau neben ihr fasst sie am Arm, drückt sie auf ihren Stuhl. Irina sieht nicht zu ihm herüber.
»Ist sie das?«, fragt Svend.
»Ja.«
»Sie ist sehr schön, Magnus, aber es scheint ihr nicht besonders gut zu gehen.«
»Nein. Sie hat ihr Strahlen verloren. Sie hat sich selbst verloren.«
»Kann ich irgendetwas tun? Soll ich …?«
»Leider nein. Wir müssen abwarten, was passiert. Aber sie darf uns nicht entwischen.«
Gedanken rasen durch seinen Kopf. Wie soll er mit ihr Kontakt aufnehmen, wenn sie sie zur selben Tür wieder hinausführen, durch die sie sie hereingebracht haben? Hat man sie etwa festgenommen oder ist sie bloß eine Zeugin? Oder doch nur eine gewöhnliche Zuschauerin? Oder wollen sie sie nur vor dem Zorn der Zuschauer beschützen?
Die Feindseligkeit im Saal, die sofort herrschte, als sie hereingeführt wurde, muss auch sie spüren. Als würden sich die sowjetischen Zuschauer wundern, dass sie, eine Angehörige der Angeklagten, nur als Zuschauerin anwesend und nicht gemeinsam mit ihrem Vater und Bruder, diesen beiden Verrätern, angeklagt ist.
Eine Minute später werden die beiden hereingeführt, und im Saal bricht lautes Gebrüll und Getrampel los. Keenan sieht Magnus an und lächelt ironisch. Er hat mit einem solchen Ausbruch offenbar gerechnet, der so gar nicht zu der stoischen Passivität der Sowjetbürger passt. Magnus erkundigt sich bei Svend, was sie rufen.
»Verräter, Schweine, Schurken, abscheulicher Abschaum, Imperialistenfreunde«, flüstert ihm dieser ins Ohr. »Erschießt die dreckigen Hunde! Diese Zerstörer des sozialistischen Friedens und des Volkseigentums.«
Magnus versteht, warum Irina noch blasser wirkt, als sie diese hasserfüllten Rufe hört.
Wie die anderen Reporter hat Svend seinen Notizblock und seinen Bleistift gezückt. Magnus versucht gar nicht erst, seine Rolle zu spielen, auch wenn er weiß, was eigentlich von ihm erwartet wird. Svend klemmt den Notizblock mit seinem Armstumpf fest und stenografiert in rasantem Tempo mit.
Magnus betrachtet die beiden Angeklagten und ist entsetzt, obwohl er bereits mit dem Schlimmsten gerechnet hat. Irinas Vater wirkt ausgezehrt und schwach. Sein brauner Anzug ist ihm viel zu weit. Er hat ein markantes Gesicht mit kurzen grauen Haaren, die früher blond gewesen sein mögen. Seine Augenbrauen sind buschig und weiß. Er sitzt mit im Schoß gefalteten Händen da und starrt auf die rote Tischdecke vor ihm. Magnus spürt, dass die Stärke und Selbstsicherheit dieses Mannes irgendwo in seinem Inneren noch verborgen sind. Seine Augen aber wirken leblos. Seine Haut ist grau und schweißbedeckt, und es ist mühelos vorstellbar, wie sein Körper aussieht und dass die Wunden und Narben der Folter nur durch die Kleidung verhüllt sind.
Der Sohn sieht aus wie die
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