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Die Wahrheit stirbt zuletzt

Die Wahrheit stirbt zuletzt

Titel: Die Wahrheit stirbt zuletzt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leif Davidsen
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Trotzkis und seiner Mitläufer, der Schurken Bucharin, Rykow und Rakowski, gelockt habe. Lasst meinem Sohn gegenüber Gnade walten, auch wenn ihr sie mir nicht erweisen könnt. Lasst uns unsere Schuld dem Volk gegenüber sühnen und unsere Schuld unserem Vaterland gegenüber durch harte Arbeit für dieses Vaterland abtragen.Schickt uns an den härtesten und strengsten Ort. Das ist nur recht und billig. Das sind meine letzten Worte. Ich vertraue bedingungslos auf die sowjetische Rechtsprechung des Volksgerichthofs.«
    Im Saal entsteht Unruhe. Die Menschen sehen einander verwirrt und unsicher an. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass man dem Angeklagten zugestehen würde, um Gnade zu bitten, ohne dass der Staatsanwalt oder der Oberste Richter einschritten.
    »Was ist los?«, fragt Magnus, aber Svend schüttelt nur den Kopf. Keenan beugt sich nach vorn und sagt etwas auf Russisch.
    »Paul sagt, dass hier irgendetwas nicht stimmt«, übersetzt Svend. »Es muss einen Kuhhandel gegeben haben. Vielleicht hat es damit zu tun, dass der Oberst trotz allem ein persönlicher Bekannter von Stalin ist, auch wenn das anderen vor ihm nichts genützt hat. Paul kann sich nicht erklären, was hier gerade passiert. Nur dass das Gericht jetzt ein Schlupfloch hat, wenn es sich wider Erwarten nicht zur sofortigen Hinrichtung entschließt. Das Ganze ist sehr merkwürdig.«
    Der Oberste Richter klopft ein paar Mal mit seinem Hammer auf den Tisch, und unter den Zuschauern, die offensichtlich auch nicht wissen, wie sie das Geschehen deuten sollen, kehrt wieder Ruhe ein. Der Richter erteilt den Verteidigern das Wort. Sie erheben sich einer nach dem anderen und lesen von einem Blatt Papier ab.
    Der Text ist identisch. Das Gericht wird gebeten, Gnade walten zu lassen, weil die beiden Angeklagten trotz allem mit den zuständigen Behörden kooperiert haben und ihre Verbrechen bereuen. »Lasst sie ihre Schuld beim russischen Volk durch harte körperliche Arbeit zum Nutzen des Vaterlandes in den fernen sibirischen Provinzen abtragen. Die harte körperliche Arbeit wird sie jeden Tag daran erinnern, dass sie den falschen Weg eingeschlagenhaben und dass der sowjetische Volksgerichtshof nicht von Rachsucht getrieben ist, sondern vom Wunsch nach Gerechtigkeit.«
    Wieder ist dieser seltsame Unterstrom von Unruhe in der Versammlung zu spüren, als würde die einstudierte Theatervorführung anders ablaufen, als das Textbuch es verlangt. Niemand klatscht, obwohl das wohl eigentlich vorgesehen wäre. Der Richter wirkt ebenfalls ein wenig konsterniert, aber als niemand zu klatschen beginnt, erteilt er dem Staatsanwalt das Wort.
    Der kleine Mann erhebt sich und setzt zu einer Schimpfkanonade an, die die Versammlung erleichtert aufatmen lässt. Seine Stimme gewinnt immer mehr an Intensität, als er den Tod dieser Verbrecher fordert, die ihre grausamen Taten vor dem Volk zu verbergen suchten: »Tod diesen Repräsentanten des rechtstrotzkistischen Blocks! Sie sind wie stinkendes Aas, sie sind widerliche Schädlinge, sie sind die Kettenhunde des Imperialismus. Sie benehmen sich wie tollwütige Hunde. Sie sind nichts anderes als eine ekelerregende Mischung aus Schweinen und Ratten. Es führt kein Weg daran vorbei: Man muss diese Schädlinge mit harter Hand beseitigen, damit ihr kranker Hass auf unser sozialistisches Vaterland und unseren großen Führer Kamerad Stalin, unseren Vater und Lenker, für immer und ewig von unserer geliebten mütterlichen Erde ausradiert wird. Sie sind Unkraut, das man mitsamt den Wurzeln ausreißen muss, damit von ihnen nichts in der Erde zurückbleibt.«
    Der Staatsanwalt macht einen Schritt nach vorn und brüllt so laut, dass seine Stimme beinahe ins Falsett kippt: »Das Einzige, wofür ihr elenden Verräter zu gebrauchen seid, ist als Dünger für unsere sowjetischen Äcker.«
    Von mehreren Zuschauern sind Beifallrufe zu hören, die aber übertönt werden, als alle bis auf die ausländischen Journalisten noch lauter als bisher zu applaudierenbeginnen. Das Klatschen brandet dem Staatsanwalt entgegen, der aussieht wie der zufriedene Direktor eines kleinen Provinztheaters, dem endlich einmal ein Kassenschlager gelungen ist. Er verneigt sich jedoch nicht, sondern lächelt bloß. Der Oberste Richter tut es ihm gleich und nickt seinen Richterkollegen zu, die zurücknicken. Vater und Sohn rühren sich nicht. Sie sitzen einfach nur da und betrachten die Hände in ihrem Schoß.
    Ian Fleming und seine Kollegen von den Nachrichtenagenturen

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