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Die Wahrheit stirbt zuletzt

Die Wahrheit stirbt zuletzt

Titel: Die Wahrheit stirbt zuletzt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leif Davidsen
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ihren Wurzeln auszureißen und den Kapitalismus wiedereinzuführen, den Kamerad Lenin und Kamerad Stalin besiegt haben. Das NKWD hat diese Verräter und Volksfeinde überführt. Das Volk hat sie angeklagt. Der Wille des Volkes geschehe. Unser gerechtes sowjetisches Rechtssystem möge nun urteilen.«
    Wieder entsteht Unruhe im Saal. Schließlich wendet sich der Staatsanwalt der Ausführung der Anklagen in zahllosen Paragraphen und Unterpunkten zu.
    Magnus blickt zu Irina hinüber, die wie versteinert dasitzt. Er versucht, sie durch die Kraft seiner Gedanken dazu zu bringen, ihn anzusehen, aber sie vermeidet es nach wie vor. Svend notiert sich fleißig die juristischen Details, die der Staatsanwalt vorliest, und auch Keenan schreibt eifrig mit.
    Der Staatsanwalt verwendet einige Zeit darauf, darzustellen, wann die beiden Verräter sich unter dem Vorwand familiärer Zusammenkünfte getroffen hätten, wobei es sich in Wahrheit um konspirative Treffen mit dem Ziel gehandelt habe, die Erweiterung ihrer Verräterzelle voranzutreiben. Dies habe das NKWD durch sein schnelles Eingreifen glücklicherweise verhindern können.
    Erneut wogt begeistertes Klatschen durch den Saal. Wenn Magnus alles richtig verstanden hat, liegt für die erhobenen Anschuldigungen kein einziger Beweis vor. Es gibt noch nicht einmal Indizien. Und falls im Rahmen dieser großen Verschwörung noch weitere Personen festgenommen worden sein sollten, verliert der Staatsanwalt darüber jedenfalls kein Wort, der Vorwurf aber, mit den beiden konspiriert zu haben, lässt sich sicher auch in Zukunft noch verwenden, wenn neue Sündenböcke für Stalins unverkennbaren Verfolgungswahn benötigt werden.
    Die beiden Angeklagten versuchen, einander nicht anzusehen. Sie haben jeder einen eigenen Verteidiger, zwei Männer mittleren Alters, die in den gleichen billigen Anzügen dasitzen und aussehen, als langweilten sie sich zu Tode und könnten es kaum abwarten, bis die Sache endlich überstanden ist. Sie mischen sich jedenfalls nicht in das Prozessgeschehen ein.
    Der Staatsanwalt geht zum Richterpult hinüber undübergibt dem Richter das Blatt Papier. Dieser studiert den Schriftsatz mit gewichtiger Miene, bevor er den Blick hebt.
    »Bürger Anatoli Nikolajewitsch Schapatowo«, sagt er. »Haben Sie die Anklagepunkte gehört und verstanden?«
    Irinas Bruder erhebt sich nicht. Magnus hat den Verdacht, dass er vollkommen geschwächt ist. Als er und sein Vater hereingekommen waren, waren sie so langsam gegangen wie alte, gebrechliche Menschen, und sie mussten jeweils von zwei Wächtern gestützt werden.
    »Jetzt kommt’s, Magnus«, flüstert Keenan. »Das Juwel des sowjetischen Rechtssystems: das Geständnis. Das erspart allen eine Menge Zeit.«
    Magnus sieht, wie Irinas Bruder nickt, aber der Richter wiederholt seine Frage, und Anatoli antwortet leise. Der Oberste Richter sieht seine Richterkollegen bedeutungsvoll an.
    »Was haben Sie zu den Anklagepunkten vorzubringen, Bürger Schapatowo? Wie verhalten Sie sich dazu?«
    »Ich gestehe meine Verbrechen und bitte das Volk um Vergebung.«
    Seine Stimme klingt erstaunlich sicher, und zum ersten Mal sieht er zu seinem Vater hinüber, dessen Blick aber nach wie vor auf die gefalteten Hände in seinem Schoß gerichtet ist. Dann sieht Anatoli zu seiner Schwester hinüber, die ebenfalls auf ihre Hände schaut.
    Der Richter nickt wieder bedeutungsvoll und fragt: »Ist dieses Geständnis, das in den Verhörprotokollen enthalten ist, die dem Gericht als Anlage der Staatsanwaltschaft übergeben wurden, freiwillig und ohne Zwang abgelegt worden?«
    »Ja. Ich gestehe aus freien Stücken alle meine Verbrechen als Volksfeind und Trotzkist. Die Verhöroffiziere des Volkskommissariats für Interne Angelegenheiten haben sich mir gegenüber untadelig und mit sozialistischemAnstand verhalten. Ich habe das Verhörprotokoll freiwillig unterzeichnet.«
    Svend übersetzt mit monotoner Stimme. Wie früher in der Schule, wenn man aufstehen und den Gesangbuchvers aufsagen musste, den man auswendig gelernt hatte. Man hatte keine Ahnung, was die Worte, die man gerade herunterleierte, eigentlich bedeuteten, aber das spielte keine Rolle. Hauptsache, man trug sie fehlerfrei vor. Als eine kleine Pause in Svends Übersetzungsfluss entsteht, will Magnus etwas sagen, aber Svend hebt warnend seinen Armstumpf und gibt ihm wortlos zu verstehen, dass er an Kommentaren zu diesem Schauprozess nicht interessiert ist.
    Wieder nickt der Richter bedeutungsvoll. Er

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