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Die Wahrheit stirbt zuletzt

Die Wahrheit stirbt zuletzt

Titel: Die Wahrheit stirbt zuletzt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leif Davidsen
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springen auf und stürmen aus dem Saal, um ihre Neuigkeiten als Erste außer Landes zu bringen. Einige der sowjetischen Journalisten stehen ebenfalls auf, setzen sich aber wieder hin, als der Oberste Richter mit einigen wenigen Hammerschlägen um Ruhe bittet. Er teilt mit, dass die Richter sich zu einer gründlichen Beratung zurückziehen und ihr Urteil am nächsten Vormittag um zehn Uhr verkünden würden. Er erhebt sich, rafft seinen Umhang zusammen und geht die Treppe hinter dem Richterpult hinunter. Er verlässt den Saal durch eine Tür zu seiner Rechten. Alle erheben sich.
    Magnus versucht, Irina im Blick zu behalten, verliert sie aber aus den Augen. Er will nach vorn gehen, aber die uniformierten Wächter, die während des gesamten Prozesses zu beiden Seiten des Richterpults gestanden hatten, hindern ihn daran.
    »Irina«, ruft er. »Irina. Wo bist du?«
    »Es hat keinen Sinn, Magnus«, sagt Svend. »Der Mensch zieht hier immer den Kürzeren, lass es also einfach sein.«
    Magnus sieht ihn an.
    Svend ist ganz grau im Gesicht, und sein Blick verrät inneren Schmerz. Er hält Magnus am Ellbogen fest, aber auf einmal lockert er den Griff. Magnus spürt, dass hinter ihm etwas vor sich geht. Er kann es an Svends Pupillen erkennen, die sich plötzlich weiten. Magnus dreht sich um. Irinas Aufpasser schiebt sich wie ein Nashorn durchdie Menge. Er flüstert einem der NKWD-Wächter etwas ins Ohr, der daraufhin zur Seite tritt. Und so reicht der Mann Magnus einen zusammengefalteten Zettel und sagt etwas auf Russisch. Dann dreht er sich um und schiebt wie ein großes Schiff durch das Menschenmeer davon.
    »Was hat er gesagt, Svend?«, fragt Magnus und faltet den Zettel auseinander. Er kann die kyrillischen Buchstaben nicht lesen, aber er erkennt einige Zahlen. Es sieht aus wie eine Adresse.
    »Er hat gesagt, du kannst Irina heute Abend um neunzehn Uhr treffen. Das hier ist die Adresse«, sagt Svend. »Sie wohnt anscheinend immer noch im Regierungsgebäude. Das kommt mir seltsam vor, aber das ist die angegebene Adresse. Und er hat noch etwas gesagt, was ich nicht ganz verstanden habe. Ein Bekannter aus Spanien würde dir diesen Gefallen tun. Ein sowjetischer SIM-Agent, den du dort kennengelernt hast.«
    »Stepanowitsch?«
    »Er hat keinen Namen genannt. Er meinte, du wüsstest schon, um wen es sich handle. Aber es ist auf jeden Fall jemand, den du kennst.«
    »Dann kann es niemand anders sein, aber er ist mir nichts schuldig.«
    »Er ist da offensichtlich anderer Meinung. Aber, Magnus …?«
    »Vielleicht hat es etwas mit Mads zu tun?«
    »Das weiß ich nicht. Magnus, hör mir jetzt bitte zu.«
    »Ja.«
    »Es ist entscheidend für das weitere Schicksal von Irina und ihrer Familie, dass du kommst, und zwar allein, hat er gesagt.«
    »In Ordnung.«
    »Ich möchte dich gern begleiten.«
    »Tu das lieber nicht. Wir halten uns an die Bedingungen.«
    »Das habe mir gedacht, aber dann nimm bitte deinen Revolver mit.«
    »Zu einem Rendezvous, Svend?«, sagt Magnus und fühlt sich in dem ganzen Elend auf einmal geradezu glücklich.
    »Wenn man hier zu einem Rendezvous geht, ist es immer gut, für alle Eventualitäten gerüstet zu sein. Warum nennt man es wohl russisches Roulette, wenn ein Mensch mit dem Tod spielt?«, sagt Svend mit einem Lächeln, das seine Augen jedoch nicht erreicht.

30
    E s liegt Schnee in der Luft, als Magnus das Hotel National verlässt, nach rechts abbiegt und am Manege-Platz und der westlichen Mauer des Kreml vorbeigeht. Er mischt sich in den Strom der Fußgänger, die in dem kalten Winterdunkel vorwärtseilen, während die kleinen Schneeflocken, die durch die Luft wirbeln, wie winzige Nadeln in sein ungeschütztes Gesicht stechen. Magnus sieht aus wie all die anderen dunklen Schatten in der nur spärlich beleuchteten Stadt. Er trägt einen dicken schwarzen Mantel und eine dunkelgraue Schapka. Beides hat er am Tag zuvor gekauft, als er mit Keenan einen Spaziergang gemacht und so gefroren hat, dass ihm trotz seines neuen Berliner Mantels die Zähnen klapperten.
    Keenan kannte einen kleinen Laden in der obersten Etage des GUM, wo es gegen harte Währung größere Auswahl und bessere Qualität gab als sonst in den halb leeren Regalen. Magnus hat dort auch ein Paar feste Winterstiefel, gefütterte Handschuhe und dicke Strümpfe gekauft.
    Mit seiner tief über die Ohren gezogenen Pelzmütze friert er nicht zwischen all den schweigenden Menschen, die mit gesenktem Kopf auf die Schlaglöcher in den Gehwegen

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