Die Wahrheit stirbt zuletzt
vergessen wollen.«
Sie klingt leblos, als säße sie in einem Klassenzimmer und hätte das alles bloß auswendig gelernt. Ihr Spanisch ist grammatikalisch korrekt, aber es liegt kein Gefühl oder Leben darin.
Sie nimmt eine Flasche von einem Tisch am Fenster, gießt Wodka in zwei kleine Gläser und reicht ihm das eine. Sie nippt an ihrem Glas, während er die klare Flüssigkeit in einem Zug austrinkt, sodass sie ihm in der Kehle brennt. Er reicht ihr das Glas, und sie füllt es erneut. Diesmal trinkt er es nur zur Hälfte aus, während er überlegt, was er sagen könnte, um die merkwürdige Stimmung aufzulösen, die zwischen ihnen herrscht.
Der große Wohnraum ist hübsch eingerichtet mit einem Esstisch aus Mahagoni und gepolsterten Stühlen mit hohen Lehnen. An einer Seite steht ein Glasschrank, darin zartes, mit Blumen verziertes Porzellan sowie Wein- und Biergläser. In den beiden angrenzenden Räumen, die durch breite Bögen vom Esszimmer abgetrennt sind, stehen niedrige Tische mit bequemen Sesseln. Es gibt ein Radio und ein Grammofon. Magnus entdeckt Bücherschränke, in denen dicke Lederbände hinter Glas stehen, das dringend einmal geputzt werden müsste.
An einer Wand des Esszimmers hängt ein Gemälde, darauf eine russische Winterlandschaft mit Birken und Kiefern, an der anderen Wand ein riesiges Ölgemälde, das einen geschönten Stalin zeigt. Die Augen über seinem kräftigen Schnurrbart blicken streng, und es wirkt, als sähe er den Betrachter ein wenig schief an. Er trägt ein helles russischesBauernhemd ohne Kragen und hält eine kleine gebogene Pfeife in der Hand.
Magnus nimmt einen weiteren Schluck.
Irina folgt ihm mit den Augen. Er überlegt, ob sie vielleicht verrückt geworden ist. Verzweifelt sucht er nach Worten. Er leert das Glas und stellt es auf den Tisch neben die Wodkaflasche, geht zum Esstisch hinüber und lässt seine Hand über dessen glatte Tischplatte gleiten. Seine Fingerspitzen nehmen eine Unebenheit in der Tischplatte wahr. Er beugt sich hinunter und sieht, dass kyrillische Buchstaben in den Tisch eingraviert sind.
»Was steht da, Irina?«, fragt er, und seine Stimme klingt in dem unbelebten Raum ganz seltsam.
»Gehört dem Kreml.«
»Wie bitte?«
»Da steht, dass der Tisch dem Kreml gehört. Alles in dieser Wohnung gehört dem Kreml. Die Wohnung gehört dem Kreml. Wir besitzen nichts. Wir sind Kommunisten, Magnus. Der Kreml gibt und der Kreml nimmt. Denn dem Kreml und dem da an der Wand gehört alles. Unser Tisch, mein Bett und meine Seele. Alles hier ist von seinen Gnaden, und er ist uns nicht länger gewogen. Das hast du heute selbst erlebt.«
»Irina.«
»Wir können nichts dagegen tun, Magnus. Du hättest niemals nach Russland kommen dürfen.«
»Man kann immer etwas tun.«
»Bitte kehr nach Dänemark zurück, Magnus. Du verstehst mein Land nicht.«
»Es gibt immer eine Lösung. Man darf nicht aufgeben. Und du hast dich eben beinahe religiös angehört. Glaubst du etwa neuerdings an Gott? Soll er uns etwa zu Hilfe eilen? Gnade! Stalin und Gnade, das passt nicht zusammen.«
Er versucht, heiter zu klingen, aber es wirkt gekünstelt.Er möchte so gern die ungezwungene, humorvolle Stimmung wiederbeleben, die in Spanien zwischen ihnen geherrscht hatte. Er möchte so gern zu ihr vordringen. Er wünscht sich so sehr, dass das alles nur ein böser Traum ist und dass sie gleich zusammen in ihrem Bett im Gran Hotel in Albacete aufwachen und über alles lachen können, um sich dann in der Morgendämmerung zu lieben.
Sie sieht ihn mit ihren seltsam toten Augen an.
»Ich glaube nicht an Gott«, sagt sie tonlos. »Das darf ich nicht. Meine Großmutter hat an ihn geglaubt. In den russischen Familien sind die Babuschkas sehr wichtig. Selbst Papa konnte sie nicht davon abhalten, von Gott zu sprechen. Ich darf es nicht, aber ich kann es nicht lassen, an Ihn zu denken, weil ich viel an Babuschka denken muss. Manchmal ist ihr geblümtes Tuch das Einzige, woran ich mich noch erinnere. Es war rot und es duftete so herrlich nach sonnenwarmem Gras und Honig. Ich weiß nicht …« Sie hält inne und sieht ihn verwirrt an.
»Wann ist deine Großmutter gestorben?«
»Es fühlt sich an, als wäre es schon sehr lange her. Ich war in Spanien. Sie war sehr alt und krank, sodass es wohl eine Erlösung für sie war. Trotzdem war ich sehr traurig. Sie würde mir verzeihen, glaube ich. Hoffe ich. Ich glaube, sie würde Bibu vergeben und sagen, dass es nicht meine Schuld ist. Ich glaube
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