Die Wahrheit stirbt zuletzt
Fenster noch erleuchtet sind. Drinnen laufen Menschen umher. Es scheint ein Lebensmittelgeschäft zu sein, aber in den Regalen liegen nur wenige Waren.
Es sind keine Wächter zu sehen, aber man hat ihm gesagt, dass es an jedem Eingang einen Pförtner gebe, der den Zugang zu den Fahrstühlen kontrolliert. Er solle dem Pförtner den Zettel zeigen, den der Mann ihm im Säulensaal gegeben hat, dann werde man ihn mit dem Fahrstuhl in den sechsten Stock fahren lassen.
Er betritt den Hof.
Zu seiner Rechten liegt ein großes Theater. Er kann nicht lesen, welche Vorstellung auf dem Plakat annonciert wird. Er geht weiter. Der Wind pfeift eisig um eine Ecke und beißt ihn in die Wangen, als wäre er mit Stopfnadeln bewaffnet. Im Hof sind einige schwarze Wagen geparkt. Auf den ersten Hof folgt noch ein zweiter. Dort befinden sich einige Büros, die aber geschlossen sind. Vor einer der Türen hängt ein schweres Schloss. Hier sind die Geräusche der Stadt nicht mehr zu hören. Obwohl die Höfe ziemlich groß sind, beschleichen ihn klaustrophobische Gefühle, als beugten sich die hohen Mauern mit den vielen schwarzen Fenstern über ihn und drohten, über ihm einzustürzen und ihn unter sich zu begraben.
Der gesamte Gebäudekomplex erinnert ihn an eine mittelalterliche Burg mit Türmen an allen vier Ecken und einem Innenhof, der die einzelnen Gebäudeteile miteinanderverbindet. Er stellt sich vor, dass hier im Sommer ein munteres Treiben herrscht, dass Menschen picknicken, Wodka oder Bier trinken oder einfach nur plaudern, während die Kinder unter dem blauen Himmel spielen.
Im Winterdunkel ist alles in verschiedene Nuancen von Schwarz getaucht. Vereinzelte Lampen verbreiten ein schwaches gelbliches Licht, aber in den Ecken ist es dunkel. Dort kann sich alles Mögliche verbergen. Er dreht sich um, als er etwas hinter sich zu spüren meint, aber da ist nichts. Nicht einmal eine Katze. Oder eine Ratte. Er fasst wieder von außen gegen seinen Mantel und spürt den Revolver. Ihm ist viel zu heiß in seinen neuen warmen Wintersachen, aber er weiß, dass ihn etwas anderes zum Schwitzen bringt.
Er muss Korpus 4 finden. Wohnung 637.
Suchend sieht er sich um, muss zurückgehen. Schließlich entdeckt er die Nummer an der Ecke des ersten Gebäudes. Von der schweren Tür blättert die Farbe ab, aber sie lässt sich leicht öffnen. Er betritt eine Vorhalle und klopft sich den Schnee von den Stiefeln. Links von der Tür sitzt ein alter Mann in einem kleinen Verschlag. Seine kleine Pförtnerloge ist geöffnet. Magnus kann sein Radio hören. Es spielt klassische Musik, unterbrochen von einer lauten Männerstimme.
Der Pförtner schaut auf. Er trägt einen grünen Mantel und hat sich länger nicht rasiert. Seine Augen sind leicht gerötet, und sein Atem riecht nach Wodka. Er raucht eine dicke Zigarette. Magnus reicht ihm den Zettel. Der Mann liest ihn nach wie vor schweigend und deutet auf die beiden Fahrstühle, die sich auf der gegenüberliegenden Seite befinden.
Im Fahrstuhl stinkt es nach Urin. Er ist nicht besonders groß und mit Holz vertäfelt und hat eine Innentür. Magnus schiebt sie zu und drückt auf die Zahl 6. Rumpelnd und knarrend fährt der Fahrstuhl langsam nach oben. Magnus’Puls schlägt viel zu schnell. Er knöpft seinen Mantel auf, setzt seine Pelzmütze ab und fährt sich mit der Hand durchs Haar. Er trägt seinen grauen Anzug, aber keine Krawatte. Vorhin im Hotel hat er sich noch gründlich rasiert. Er versucht, über sich selbst zu lachen, weil er sich wie ein Teenager vor seinem ersten Rendezvous fühlt, aber es gibt nichts zu lachen. Es geht ihm, ehrlich gesagt, nicht gut, und er hat nicht die geringste Ahnung, was ihn hier erwartet.
In der sechsten Etage steigt er aus. Es gibt dort nur zwei Wohnungen. Beide Türen sehen gleich aus, braun und massiv und mit geschnitzten Verzierungen. Auf dem Boden liegt schönes solides Parkett, die Wände sind beige gestrichen und sehen im Licht der edlen Kronleuchter sehr gepflegt aus. Der Eingang unten schien eher in ein Elendsviertel zu passen, hier aber, kaum dem Fahrstuhl entstiegen, betritt man eine andere Welt.
Er blickt nach links. Er blickt nach rechts.
Eine breite Treppe führt zur fünften Etage hinunter und auf der anderen Seite zur siebten hinauf. Sie ist aus Holz und so neu, dass sie noch gar nicht abgetreten ist. Er stellt sich vor die Tür mit der Nummer 637 und holt tief Luft. Es gibt einen Türklopfer, mit dem er dreimal anklopft. Das Geräusch hallt durch das
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