Die Wahrheit stirbt zuletzt
dir das mal vor. Dreißig Meter. Allein der Daumen soll schon sechs Meter lang sein. Was für ein Finger, nicht wahr? Babuschka hat darüber nur gelacht. Sie sagte, daraus werde niemals etwas werden. Es werde niemals fertig werden. Gott werde das nicht zulassen. Es hat tatsächlich schon viele Schwierigkeiten gegeben. Sie sind jetzt schon seit sieben Jahren mit dem Bau beschäftigt, aber es strömt immer wieder Wasser aus dem Fluss hinein, sodass sie wieder von vorn anfangen müssen. ›Das ist Gottes Strafe‹, sagte Babuschka. Aber der Mann an der Wand gibt nie auf. Mit ihm hat sie nicht gerechnet. Und wenn es hundert Jahre dauert, er wird immer weiter bauen. Ich denke vor allem an etwas ganz anderes. Wenn Lenin erst einmal seinen Platz dort oben eingenommen hat, werden die armen Menschen, die jedes Jahr im Sommer im Fluss schwimmen, in Zukunft im Schatten schwimmen müssen.«
Er dreht sie langsam zu sich um. Ihr Blick ist fern. Er fasst sie zart am Kinn, möchte so gerne, dass sie ihm in die Augen sieht. Er möchte zu ihr vordringen und ihre blutende Seele verstehen. Sie leistet keinen Widerstand, sondern lässt ihn scheinbar willenlos ihren Kopf halten, bevor sie ihm urplötzlich den Boden unter den Füßen wegzieht.
»Warum sagst du nicht einfach, wo es ist, Magnus?«, fragt sie nüchtern. »Warum verrätst du nicht einfach, wo das Gold ist, damit die Sache endlich erledigt ist und wir alle nach Hause gehen können? Das wäre doch viel einfacher.«
»Was redest du da, Irina? Was weißt du darüber?«, sagt Magnus völlig konsterniert.
»Das fragst du wirklich?«
»Du meinst das spanische Gold? Darüber haben wir in Spanien nie gesprochen.«
»Haben wir nicht? Komisch, ich dachte, das hätten wir. Hast du nur mit Joe darüber gesprochen? Was ist eigentlich aus Joe geworden? Er war auf einmal weg.«
Magnus ist erschüttert. Das Ganze trifft ihn vollkommen unvorbereitet. Er kann sich nicht vorstellen, dass Joe Mercer zu irgendeinem Zeitpunkt mit Irina über ihr verfluchtes gemeinsames Vorhaben gesprochen hat. Er hat Joe nicht vergessen, aber er hat ihn wie Mads in einem Winkel seines Herzens versteckt. Es gelingt ihm inzwischen immer öfter, nicht an den toten Amerikaner zu denken, der unter den römischen Ruinen in Cartagena liegt.
»Was zum Teufel meinst du, Irina?«, sagt er jetzt mit härterer Stimme. »Was soll ich verraten und wem?«
Er muss sich beherrschen, um sie nicht zu fest am Kinn zu packen, und zieht seine Hand zurück. Sie wendet den Blick sofort von ihm ab und sieht wieder in die Ferne.
»Es wäre doch viel einfacher, nicht wahr, Magnus? Wenn du mir einfach erzählen würdest, wo du das Gold versteckt hast, dann könnten wir alle nach Hause gehen und niemand müsste mehr leiden. Auf die Weise ließen sich viele Probleme lösen.«
Er schüttelt den Kopf. »Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.«
»Du weißt also nicht, wo das Gold ist?«
»Nein, das weiß ich nicht.«
»Würdest du es mir verraten, wenn du es wüsstest?«
»Ja, Irina. Das würde ich. Ich würde dir erzählen, wo es ist, wenn ich wüsste, wo es versteckt ist, aber ich weiß es nicht.«
Magnus verachtet sich für seine Lüge, dafür, wie leichtsie ihm fällt, aber er hat es hier mit einer Kiste voller giftiger Schlangen zu tun, die er nicht öffnen will, weil er nicht einschätzen kann, welche Konsequenzen das hätte. Für den Moment reicht es ihm vollkommen, verkraften zu müssen, dass sie überhaupt auf dieses grauenhafte Thema zu sprechen gekommen ist.
»Es spielt vermutlich ohnehin keine Rolle mehr«, erwidert Irina resigniert. »Es ist sicher schon zu spät. Der Schwan ist bereits gestorben, und deshalb ist wahrscheinlich auch nichts mehr zu machen.«
»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.«
»Es ist ganz einfach. Wenn in der Silvesternacht ein weißer Schwan stirbt, dann ist das ein sehr schlechtes Omen. Dann wartet das Unglück schon auf einen. Das hat Babuschka immer gesagt. Und in der Silvesternacht ist ja ein weißer Schwan gestorben. Er ist um zwei Minuten nach Mitternacht im Zoo gestorben. Alle wissen es, auch wenn sie im Radio oder in den Zeitungen nicht darüber berichtet haben, aber niemand unternimmt etwas deswegen.«
»Irina, meine Geliebte. Ich verstehe dich nicht. Ich weiß nicht, wie ich dir helfen soll. Ich weiß nicht, was ich sagen oder tun soll.«
»Gut, dass ich es weiß, Señor Meyer«, ertönt in diesem Moment eine Stimme aus dem Nebenzimmer. »Ich weiß genau, was du sagen
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