Die Wahrheit stirbt zuletzt
Treppenhaus und setzt sich in dem Raum hinter der massiven Tür fort. Er hört keine Schritte, sondern nur, dass der Schlüssel plötzlich im Schloss umgedreht wird, als hätte sie hinter der Tür gestanden und auf ihn gewartet.
Die Tür geht nach innen auf. Sein Herz rast, und er hat einen Kloß im Hals, als er das zarte Wesen mit der blassen Haut, den roten Lippen und den toten Augen vor sich stehen sieht. Es ist Irina, sie versucht zu lächeln. Er steht mit seiner Pelzmütze in der Hand da und weiß nicht, was er tun oder sagen soll.
Irina nimmt ihm die Schapka ab und fordert ihn mit einer winzigen Kopfbewegung auf, hereinzukommen.
Er betritt den hohen Flur, der mit einem edlen Parkettboden ausgestattet ist. An der Wand befinden sich ein großer Spiegel und eine Garderobe, an der ein Pelzmantel und zwei weitere Mäntel hängen, die aussehen, als gehörten sie Männern. Sie streckt ihm die Hand entgegen, zittert ein wenig. Er zieht seinen Mantel aus, und sie hängt ihn auf einen Bügel. Als sie sich umdreht, fällt ihm auf, wie dünn sie in ihrer dunklen, viel zu weiten Hose aussieht. Die zwei obersten Knöpfe ihrer Hemdbluse sind geöffnet, sodass er ihr Dekolleté zumindest erahnen kann, als sie sich wieder zu ihm umdreht und mit gesenktem Blick vor ihm steht, als schämte sie sich. Der Anblick droht ihm das Herz zu zerreißen.
Er macht einen Schritt nach vorn und zieht sie zu sich heran. Als sie ihren Kopf vorsichtig auf seine Schulter legt und seufzt, glaubt er, ein kleines Kätzchen im Arm zu halten. Ihr Haar riecht nur ganz leicht nach Shampoo, ansonsten duftet sie wie ein kleines Kind. Sie schließt die Augen. Zuerst hängen ihre Arme schlaff an ihrem Körper herunter, aber nach einer Weile schlingt sie sie um ihn und hält ihn fest, und er spürt, wie sie sich an seinen Körper presst und lautlos weint.
So stehen sie lange in dem stillen Flur, bis sie ihn loslässt und sich die Tränen abwischt.
»Willkommen, Magnus«, sagt sie auf Spanisch. »Das muss ich wohl sagen, auch wenn ich es vielleicht nicht meine. Ich habe nicht damit gerechnet, dich jemals wiederzusehen. Das war auch nicht so abgemacht. Du hättest nicht herkommen sollen. Was willst du hier?«
»Dich von hier wegbringen.«
»Magnus, Magnus, Magnus. Du begreifst wirklich überhaupt nichts. Du verstehst mich nicht. Und du verstehst mein Land nicht.«
»Doch. In der kurzen Zeit, die ich hier bin, habe ich mehr als genug mitbekommen.«
»Was weißt du schon? Du kommst aus einem kleinen, sicheren Land. Du hast keine Ahnung. Du hättest nicht kommen dürfen.«
»Du hast mich doch selbst gebeten zu kommen, oder etwa nicht?«
Die Atmosphäre ist angespannt.
»Ja, das habe ich. Komm rein. Tritt ein in das, was einmal ein glückliches Zuhause war, aber vorher musst du bitte deine Stiefel ausziehen. Das macht man so in Russland. In dem Bastkorb da drüben liegen Pantoffeln. Du kannst dir welche aussuchen. Wir hatten früher viel Besuch. Jetzt kommt niemand mehr, du hast also freie Wahl.«
Ihre Stimme klingt plötzlich geschäftsmäßig und hat zugleich ein wenig von der alten Lebendigkeit, die er so gut in Erinnerung hat. Er nimmt ein Paar Filzpantoffeln aus dem Korb, die denen ähneln, die Irina trägt. Sie sind warm und bequem. Er stellt seine Stiefel ordentlich neben den Korb.
Sie dreht sich um und geht mit schnellen Schritten voran. Er folgt ihr. Die Wohnung muss riesig sein. Sie liegt in einem der Türme, der auf den Kreml und den Fluss hinausgeht. Von dem Flur, in dem sie sich gerade befinden, gehen im rechten Winkel zwei weitere Flure mit unzähligen Türen ab. Die Decken sind hoch und stuckverziert. Kronleuchter verbreiten ein weiches und angenehmes Licht. Sie betreten ein Zimmer, von dem zwei weitere abgehen. Durch die hohen Fenster kann Magnus auf der anderen Seite des Flusses die beleuchteten Türme und die rote Mauer des Kreml sehen, die gelben Regierungsgebäude und die goldenen Kuppeln der Kirchen. Er kann auch die große Baustelle ein Stück weiter weg sehen, die von grellen Scheinwerfern angestrahlt wird. Unten auf der Straße, die am Fluss entlang verläuft, fährt einer der schwarzen Kastenwagen durch das Schneetreiben.
»Möchtest du etwas zu trinken, Magnus? Ich habe leider nichts zu essen da. Ich esse nicht so viel.«
Sie kichert albern und gekünstelt.
»Gern, Irina. Was hast du denn anzubieten?«
»Wodka natürlich. Das kleine Wasser. Darauf greifen wir Russen immer zurück, wenn wir uns trösten oder etwas
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