Die Wahrheit stirbt zuletzt
Haar hervor. Er ist braun gebrannt und hat überraschend weiße Zähne, dafür dass er in einem Land lebt, in dem man den meisten Menschen seiner sozialen Klasse am liebsten einneues Gebiss zur Konfirmation schenken würde. Magnus ist fasziniert von seinen Augen. Sie leuchten sehr grün und intensiv unter seiner hohen, geraden Stirn und blicken ohne Scham oder Ehrerbietung direkt in seine eigenen hinein, als Poulsen ihm die linke Hand reicht und fest zufasst, auch wenn sein Händedruck etwas unbeholfen wirkt.
»Es freut mich, Maries Bruder kennenzulernen«, sagt Poulsen. »Ich habe so viel von Ihnen gehört. Und damit meine ich viel Gutes.« Seine Stimme ist tief und lässt nur einen ganz leichten Dialekt erkennen. Er ist jünger, als Magnus zuerst vermutet hat, vielleicht Ende zwanzig, aber sein genaues Alter ist schwer zu schätzen.
»Danke, gleichfalls!«, erwidert Magnus und versucht, den Blick seiner Schwester zu erhaschen, doch sie sieht weg. Er weiß nicht, ob sie erwartet hat, dass er über ihren öffentlichen Kuss entsetzt sein würde, aber das ist er nicht. Am meisten überrascht ihn, dass es ihr so wichtig zu sein scheint, ihm zu zeigen, dass sie mit der Arbeiterklasse intim ist.
Als ob Klassen irgendeine Bedeutung für ihn hätten. In Argentinien spielten sie durchaus eine Rolle, aber eine andere als hier, und in den USA kann ein Mann es bis ganz nach oben schaffen, wenn er nur bereit ist anzupacken. Er ist den altmodischen Klassengedanken der Europäer leid. Stattdessen ist er ein Anhänger der Ideale der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, der zufolge der Schöpfer alle Menschen gleich erschaffen hat und somit alle das gleiche Recht haben, nach Glückseligkeit zu streben. Die alte Welt ist eben die alte Welt. Und die neue Welt ist genau deshalb die neue Welt, weil sie nicht an den veralteten Normen festhält, die der Chefarzt mit seinem ganzen Wesen zu verkörpern scheint. In den USA zählt Geld mehr als die Familie und soziales Erbe. Es kann schon sein, dass neues Geld weniger vornehm ist als altes,aber neues Geld verschafft einem dennoch den Zugang zu den richtigen Kreisen.
»Sollen wir nicht hineingehen, Svend?«, fragt Marie.
Svend schüttelt den Kopf, als gebe es da etwas, das er einfach nicht versteht. »Das können wir nicht«, sagt er. »Sie haben das Schloss ausgewechselt. Ich komme nicht hinein.«
»Was sagst du da? Du kommst nicht in deine eigene Redaktion? Und dein Büro, was ist damit?«
»Es muss passiert sein, während ich in Kopenhagen war. Ich bin von der Partei ausgeschlossen und von meinem Redakteursposten gefeuert worden. Sie behaupten, ich sei Trotzkist. Und Kontrarevolutionär. Ich bin jetzt ein Klassenverräter, den sie anscheinend für so etwas wie den dänischen Anführer des Trotzkismus halten.« Er zeigt kopfschüttelnd auf ein kleines, zweistöckiges Haus. Hinter den Fenstern sind zwei Gesichter zu erahnen, die sich zurückziehen, als sie alle drei nach oben starren.
In einem Wirtshaus in der Nähe erfahren Magnus und Marie mehr von der Geschichte. Es ist ein kleines Lokal mit nur wenigen Tischen und noch weniger Gästen so früh am Vormittag. Auf den Tischen liegen blau karierte Decken, die Stühle sind abgewetzt, und es riecht nach altem Tabak, verschüttetem Bier und verlorenen Seelen. Ein kleiner, sehr korpulenter Mann mit schwarzen Hosenträgern und einer speckigen Schürze serviert Marie einen Kaffee und den Männern ein Bier. Magnus hat das deutliche Gefühl, dass der Wirt Marie und Svend kennt. Svend trägt einen Ehering, bemerkt Magnus, er sieht aber auch, wie sehr Svend von Marie bezaubert ist und wie gern er sie hat. Vor allem aber scheint er über seinen Parteiausschluss so erschüttert zu sein, als habe ihn jemand seines Lebensinhaltes beraubt.
Svend Poulsen war zu einem Treffen mit der obersten Führung der Kommunistischen Partei nach Kopenhagenbeordert worden. Er nahm an, es würde um Routinefragen gehen, um eine Neuausrichtung der Spanienpolitik, die Svends Spezialgebiet war, aber stattdessen fand er sich vor dem Parteigericht wieder, das ihn des parteischädigenden Verhaltens und des Trotzkismus beschuldigte.
»In Moskau führen sie große Schauprozesse gegen Stalins Gegner. Beinahe jeden Tag kann man in den Zeitungen von entsprechenden Urteilsverkündungen und aufsehenerregenden Geständnissen lesen. Und auch fast täglich steht dort etwas über Hinrichtungen der Feinde Stalins. Fast allen wird vorgeworfen, Verfechter der Ideen Trotzkis zu
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