Die Wahrheit stirbt zuletzt
Poulsen reden. Magnus überlegt, warum sie sich auf Anhieb so gut verstehen. Vielleicht, weil Magnus die letzten fünf Jahre zusammen mit Arbeitern verbracht hat, während Svend Poulsen zwar der Arbeiterklasse entstammt, sich inzwischen aber mit intellektuellem Gepäck ausgerüstet hat. Vielleicht ist es auch wegen des Krieges. Der Krieg verändert die Menschen. Es kommt ihm auf jeden Fall so vor, als kennten sie einander schon lange.
Poulsen erkundigt sich nach seinen Reisen und danach, ob Magnus etwas über das amerikanische kommunistische Milieu wisse, aber Magnus weiß nur, dass die Kommunisten in Amerika oft Freiwild sind. Sie werden nicht für patriotische Bürger gehalten, sondern für Stalins Handlanger. Meyer berichtet, dass es harte Arbeitskämpfe gebe und dass die Krise die Menschen schmerzhaft treffe. Er habe die umherziehenden »hobos« gesehen, die auf die Güterzüge aufspringen, und die vielen Armen in New York und Chicago, aber allmählich gehe es wieder aufwärts, scheine ihm. Roosevelt, der neue Präsident, habe einen New Deal durchgesetzt, der vielen Menschen zu Arbeit verholfen hat. Es würden Straßen und Brücken gebaut. In Amerika entstehe ein neuer Optimismus. Das Land werde sicher wieder auf die Beine kommen, sagt er.
Poulsen ist der Meinung, nur die Weltrevolution könne die Ungerechtigkeiten und die Ausbeutung der arbeitendenBevölkerung beseitigen, aber Magnus lässt sich nicht auf diese Diskussion ein. Stattdessen erzählt er, dass es sich in Argentinien ganz anders verhalte, wo jeder Versuch kommunistischer Agitation von der Polizei und dem Militär gnadenlos niedergeschlagen werde.
Nach kurzer Zeit fangen sie an, über Bücher zu sprechen, die sie beide gelesen haben, weil sie bemerkt haben, dass sie dieselben Autoren mögen und die meisten von ihnen Amerikaner sind. Die Nummer eins auf ihrer gemeinsamen Liste ist Upton Sinclair, und sie sind beide John-Steinbeck-Leser. Jack London, den Magnus sehr mag, findet Poulsen zu individualistisch und bürgerlich, auch wenn er Magnus zustimmen muss, dass er gut schreibt. Beide schätzen Ernest Hemingway sehr, den Poulsen nicht nur gelesen, sondern in Madrid sogar getroffen und mit ihm gesprochen hat. Der große amerikanische Autor hat Poulsen einen Flachmann mit sehr gutem Whisky gereicht. Nimm einen Schluck, Kamerad, hat er gesagt.
Sie sitzen auf einem umgestürzten Baum, der einem fernen Sturm zum Opfer gefallen sein muss und der jetzt eine natürliche Bank am Flussufer bildet. Das Wasser fließt ruhig dahin. Magnus sieht, wie es sich ein wenig kräuselt, als ein Lachs oder eine Forelle nach einem Insekt schnappt. Es ist still und riecht nach Spätsommer und dem beginnenden Verwelken des frühen Herbstes. Ein weißer Schmetterling flattert über dem braunen Wasser und verschwindet zwischen zwei Holundersträuchern.
Magnus fragt: »Wie hat die Novelle meines kleinen Bruders es durch die Zensur geschafft?«
»Das hat sie gar nicht. Ein Kamerad hat sie mitgebracht. Der Typhus hatte ihn so schwer erwischt, dass er nach Hause geschickt wurde.«
»Hattest du vor, sie abzudrucken?«
»Das geht nicht. Niemand würde sie abdrucken.«
Meyer bietet ihm eine Zigarette an, und sie rauchen, bevor er fragt: »Warum hast du sie Marie gegeben?«
»Ich weiß es nicht.«
»Was ist denn das für eine Antwort?«
»Die wahre. Ich weiß es nicht. Ich hatte den Brief von Mads morgens bekommen und seine Geschichte mehrmals gelesen. Alles war auf einmal wieder da. Marie kam am späten Vormittag, wie sie es oft tut, und nachdem wir, du weißt schon …«
»Uns geliebt hatten?«
»So kann man es natürlich nennen. ›Herumgehurt‹ wäre wohl genauso zutreffend, entschuldige, wenn ich das so sage, aber so muss man es wohl nennen, oder?« Er sieht Magnus an, der nicht bereit ist, ihm aus der peinlichen Situation herauszuhelfen, in die er sich selbst hineinmanövriert hat. Er dreht den Kopf zur Seite und schnipst seine Zigarette ins Wasser. Poulsen nimmt einen tiefen Zug, hält seinen Zigarettenstummel aber weiterhin in der Hand und fährt fort: »Ich habe einfach nur gedacht: Sie soll wissen, wie es ist, und dann bin ich aufgestanden und habe ihr die Erzählung gegeben. Sie hat sie gelesen und angefangen zu weinen, und dann hat sie mich ins Gesicht geschlagen und noch mehr geweint. Dann wollte sie noch einmal mit mir schlafen. Danach hat sie wieder geweint. Ich hätte es wohl nicht tun sollen.«
Magnus will ihm noch immer nicht zu Hilfe kommen. Er will ihn
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