Die Wahrheit stirbt zuletzt
Hohlweg über irgendetwas hinwegrumpelte oder in ein Schlagloch geriet.
Bertil saß uns gegenüber neben Kommissar Günther und einem der Spanier. Bertil schaute erst mich und dann Olaf an und schüttelte ratlos den Kopf. Olaf lag zwischen uns auf dem Bett aus der Kirche. Nur Arturo fehlte, er war in der Nacht zuvor abgehauen.
Arturo war nicht weit gekommen. Er lag in einem Straßengraben knappe fünf Kilometer vom Dorf entfernt. Die Kameraden, die gekommen seien, um uns abzuholen, hätten ihn erschossen, berichtete Günther. Er habe weder seine Waffe noch einen Passierschein bei sich gehabt, und eine vernünftige Erklärung habe er ihnen auch nicht liefern können. Arturo lag auf dem Rücken und guckte in den blauen spanischen Himmel. Seine Augen waren geöffnet, und sein Mund sah noch immer aus, als weine er. Auf seiner Brust hatte man mit Arturos Taschenmesser ein blassgraues Stück Stoff befestigt.
Kommissar Günther hatte mit großen schwarzen Buchstaben das Wort »Deserteur« daraufgeschrieben. Wir fuhren an ihm vorbei, ohne anzuhalten. Ute stimmte das deutsche Wiegenlied an. Ihre Stimme bebte, aber sicher nur, weil der Lastwagen schlecht gefedert war und über die löchrige Straße hinwegrumpelte.
8
S vend Poulsen läuft vor der Redaktion der Arbeiterzeitung in der Nørregade auf und ab wie ein Tier im Käfig, als Magnus und Marie am nächsten Tag wie verabredet zu ihm kommen. Seine dunkelbraune Reisetasche steht vor der Tür. Es ist ein schöner Frühherbsttag, an dem eine bleiche Sonne durch die hohen Wolken scheint und ein klares Licht verströmt, das wie durch Watte gefiltert wirkt. Die schmale, kopfsteingepflasterte Gasse, in der die Redaktion und das Büro der Kommunistischen Partei liegen, riecht nach Pferdemist und dem undefinierbaren Gestank von Armut, den Magnus neuerdings mit seiner Heimatstadt verbindet.
Er kann sich nicht daran erinnern, dass die Stadt schon so gerochen hat, als er noch dort lebte. Die Krise macht die Menschen verzagt, und der Armutsgeruch steckt in ihrer zerschlissenen, billigen Kleidung. Die Häuser sind klein und scheinen sich wegzuducken, als schämten sie sich. In seinem feinen grauen Tweedanzug, dem hellen Hemd und dem diskreten Schlips wirkt Magnus hier fehl am Platz. An den Füßen trägt er seine festen amerikanisch-italienischen Schuhe. Marie hat einen langen Rock an und eine adrette Hemdbluse sowie flaches, vernünftiges Schuhwerk. Sie muss später noch zur Arbeit.
Magnus hat kaum ein Auge zugetan. Er hat sich noch immer nicht von der Geschichte seines kleinen Bruders erholt, aber beim Frühstück haben sie nicht darüber gesprochen. Der Chefarzt hat wie üblich ein weich gekochtes Ei und eine Scheibe Schwarzbrot mit Käse gegessen, ein Glas Milch und zwei Tassen schwarzen Kaffee getrunkenund dabei die konservative Morgenzeitung gelesen.
Magnus hatte um Haferbrei gebeten, bekam ihn aber kaum hinunter, als der Teller mit einem Klecks Butter und Zucker vor ihm stand, vom Hausmädchen mit einer kurzen Berührung vor ihn hingestellt. Er ließ die Butter ein wenig schmelzen, bevor er einen Löffel von dem Brei nahm. Der erste war noch kein Problem, aber der zweite schien in seinem Mund immer mehr zu werden. Was für ein sonderbarer Einfall, eine Reise zurück in die Kindheit machen zu wollen. Stattdessen hatte er dann Kaffee getrunken und Zigaretten geraucht und an die Geschichte aus Spanien gedacht, obwohl er eigentlich wenig Lust hatte, sich noch länger damit zu beschäftigen.
Svend Poulsen beendet sein rastloses Umherwandern, als er sie erblickt. Marie überrascht Magnus damit, dass sie zu Svend Poulsen hingeht, ihn umarmt und ihn mitten auf den Mund küsst. Magnus sieht, wie sie ihre Zunge vor seinen Augen gierig in Poulsens Mund steckt. Poulsen erstarrt für einen Moment, erwidert ihren Kuss dann aber kurz. Marie lässt Poulsen los und tritt einen Schritt zur Seite. Sie ignoriert die Blicke, die die beiden Frauen ihr zuwerfen, die gerade aus dem Trikotagegeschäft schräg gegenüber der Redaktion kommen. Es sind grobschlächtige, gedrungene Frauen in armseliger Kleidung. Die eine hat einen schwächlich aussehenden Jungen an der Hand.
Svend Poulsen ist ein großer, magerer Mann, dem der rechte Unterarm fehlt. Der Ärmel seiner grauen Jacke aus grobem Stoff ist mit Nadeln an dem halben Arm befestigt. Er hat eine schwarze Hose an, breite Schuhe mit trittsicheren Sohlen und eine einfache dunkle Schiebermütze. Unter der Schiebermütze schaut kräftiges schwarzes
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