Die Wahrheit stirbt zuletzt
Republik bereitet oben im Norden bei Teruel eine größere Offensive vor. Es ist natürlich geheim, aber alle reden von einer Weihnachtsoffensive. Sie scheint beschlossene Sache zu sein. Eine solche Offensive würde auch den Druck auf Madrid verringern, jetzt, wo das Baskenland gefallen ist.« Er dreht sich um: »So sieht es aus, Magnus. Daran lässt sich nichts ändern.«
»Aber ich habe dich doch gerade erst wiedergefunden,Mads. Ich dachte, wir könnten wenigstens ein paar gemeinsame Tage verbringen, bevor du …«
»Vielleicht getötet wirst? Bertil sagt, es ist Zeitverschwendung, darüber nachzudenken. Wenn es eine Kugel gibt, die für dich bestimmt ist, dann gibt es sie eben.«
»Was für ein Unsinn.«
»Was weißt du schon? Ich halte mich an Bertil. Das hat mich bis jetzt am Leben erhalten. Im Übrigen habe ich größere Angst davor, invalide zu werden als zu sterben. Ein Bein zu verlieren oder einen Arm so wie Svend. Oder im Gesicht entstellt zu werden. Die Eier oder den Schwanz weggeschossen zu bekommen. Und jetzt muss ich pinkeln.« Mads dreht sich um und geht über das staubig graue Gestrüpp, das am Flussufer wächst.
Magnus steht ebenfalls auf und wird von einer quälenden Eifersucht auf diesen Bertil ergriffen, der das neue Vorbild für seinen kleinen Bruder zu sein scheint. Er stellt sich neben Mads und pinkelt ebenfalls. Er versucht, seiner Stimme einen scherzhaften Unterton zu verleihen, um seine Verzweiflung zu verbergen, als er sagt: »Du wirst aber hoffentlich nicht in den Tod gehen, Bruderherz, ohne den da zu etwas anderem als zum Pinkeln benutzt zu haben.«
»Nein, nein. Der kann auch noch andere Sachen. Das konnte er schon in Dänemark«, antwortet Mads mit seinem gewinnenden Lächeln.
»Na, ich muss schon sagen.«
»Du kennst sie sogar. Sie war auch dein erstes Mal, hat sie gesagt.«
»Nein. Das ist nicht dein Ernst. Nicht die.«
»Doch. Else aus der Wäscherei. Sie hat mir wie so vielen anderen beim Verlust meiner Unschuld geholfen.«
Magnus muss laut lachen und knöpft sich die Hose zu: »Dafür müsste man ihr eigentlich einen Verdienstorden verleihen. Aber trotzdem …«
Mads fährt mit größerem Ernst in der Stimme fort:»Dann gab es noch ein Mädchen auf dem Gymnasium, in das ich sehr verliebt war, mit dem ich Händchen gehalten und das ich geküsst habe, aber mehr wollte sie nicht. So sind stattdessen viele Gedichte entstanden, in denen sich Herz auf Schmerz reimt. Zum Glück habe ich gleichzeitig eine andere kennengelernt, die in Kohls Fabrik gearbeitet hat. Von Gedichten hat sie nicht viel verstanden, aber dafür von anderen Dingen. Auf die Weise konnte ich das Geistige und das Körperliche miteinander versöhnen.«
»Du bist tatsächlich erwachsen geworden, kleiner Bruder.«
»Das wird man im Laufe von fünf Jahren. Und wenn du es genau wissen willst: Da war auch noch eine Hure in Barcelona, aber das war keine gute Sache. Ich habe mich richtig schlecht gefühlt danach. Ich hatte das Gefühl, mich nie wieder davon reinwaschen zu können. Und wie sieht es bei dir aus?«
»Es gab so viele, dass ich mich gar nicht an alle erinnern kann«, antwortet Magnus, den die freimütige Offenheit seines Bruders in Bezug auf Dinge, über die man eigentlich nicht spricht, etwas verlegen macht.
»Und eine, für die du getötet hast.«
»Ich glaube, es war mehr, um meine eigene Haut zu retten. So bin ich doch deiner Meinung nach.«
»Komm mir jetzt bitte nicht mit deinem Selbstmitleid, Bruderherz. Lass uns zurückgehen. Ich habe Hunger.« Mads dreht sich um, nimmt Hemd und Jacke von dem großen Stein, zieht sie schnell an und läuft los, sodass Magnus sich beeilen muss, um ihn einzuholen.
»Gibt es eine Bar, in der ich dich auf ein Mittagessen einladen kann?«, fragt er in Mads’ Rücken hinein.
»In Madrigueras? Ich glaube nicht, dass du das möchtest. Sie behaupten, es sei Rindfleisch, und wenn man Glück hat, ist es Pferdefleisch, aber in der Regel stammt das Fleisch von einem sehnigen, ausgezehrten Esel, der anAltersschwäche gestorben ist. Von den Kameraden in der Kirche können wir Linsen mit ein paar Stückchen Fleisch und ein Glas Wein bekommen. Es kann sogar sein, dass es heute auch ein Stück Brot dazu gibt. Bertil ist gut darin, Essen zu organisieren. Ich bin Befehlshaber der Spezialeinheit und bekomme dafür zehn Pesetas am Tag, aber ich kann sie hier für nichts anderes ausgeben als für Schnaps und Zigaretten auf dem Schwarzmarkt, also …«
»Na, dann sage ich
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