Die Wahrheit stirbt zuletzt
vielen Dank für die Einladung.«
Mads wendet ihm sein junges Gesicht zu und sagt: »Abgemacht. Aber du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich mich nach einem anständigen Essen sehne. Dabei habe ich einen Magen, der den spanischen Fraß besser verträgt als die meisten anderen. Ich habe manchmal die entsetzlichsten und zugleich herrlichsten Visionen, wenn ich an gepökelten Rinderbraten oder gebratene Scholle mit Petersiliensoße denke, an Frikadellen mit Weißkohl in Mehlschwitze, an ein anständiges Stück Brot mit Hering in Curry und Zwiebeln oder an Leberpastete mit Roter Bete auf frisch gebackenem Schwarzbrot oder an Hühnersuppe, gefolgt von Huhn in Meerrettichsoße. Oder wie wäre es mit …«
»Verflixt noch mal, Mads. Hör auf. Das geht zu weit. «
»Erinnerst du dich an den Schweinebraten unserer Köchin Signe, den mit der knusprigen Kruste, dazu den selbstgemachten Rotkohl, die weißen, genau auf den Punkt gekochten Kartoffeln, dazu die braunen, karamellisierten Kartoffeln und ihre Soße – ihre wunderbare braune Soße, Magnus, in der der Löffel fast von alleine stehen konnte.«
»Jetzt halt endlich den Mund, Mads«, grinst Magnus und klopft ihm auf die Schulter.
Mads legt seinen Arm um ihn, und sie gehen lachend weiter, während sie versuchen, einander im Beschreiben von Gerichten aus dem verlorenen Land der Kindheit zu überbieten, wobei ihnen das Wasser immer mehr im Munde zusammenläuft.
18
D ie Kirche von Madrigueras ist natürlich das größte Gebäude des Dorfes. Wie eine mächtige Burg ragt sie über die niedrigen Häuser rund um den Kirchplatz, von dem die staubigen Gassen in alle Richtungen abgehen. Die Kirche wirft lange Nachmittagsschatten auf die heruntergekommenen Häuschen, an denen schon seit Jahren nichts mehr gemacht worden ist.
»Madrigueras ist eines von Spaniens unzähligen armen Dörfern, dessen Bewohner schon immer von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang für einen Hungerlohn gearbeitet haben. Nur der Dorfschullehrer, der Priester und der Gutsbesitzer konnten lesen und schreiben. Die Männer des Dorfes stellten sich jeden Tag im Morgengrauen auf dem Kirchplatz auf. Der Gutsverwalter wählte dann die aus, die für zwölf Stunden Feldarbeit mit gebeugtem Rücken einen bescheidenen Tagelohn bekamen. Der Hunger war ein ständiger Gast, und von der Geburt bis zum Tod war die Hoffnungslosigkeit eine treue Begleiterin. Viel zu oft sahen die Menschen ihre Kinder sterben, bevor diese auch nur ein Jahr alt waren. Die, welche überlebten, mussten zum Lebensunterhalt der Familie beitragen, sobald sie fünf Jahre alt waren. In den spanischen Dörfern begreift man sofort, worum es in diesem Krieg geht und für wen oder was da gekämpft wird. Es sind die Armen, die Unterdrückten und die Ausgestoßenen. Es geht um die Gerechtigkeit und den Traum von einer besseren Gesellschaft für alle Menschen. Eine Gesellschaft, in der alle gleich sind und den gleichen Zugang zu den wunderbaren Gütern dieser Erde haben.«
All das sagt Mads, während sie zum Dorf zurückgehen. Magnus empfindet eine merkwürdige Mischung aus Erleichterung und Verzweiflung bei den Worten, die so wohlgesetzt aus dem Munde seines kleinen Bruders strömen. Er bewundert sein Engagement und seinen Idealismus, obwohl sie ihm naiv und realitätsfern vorkommen. Er wünschte, er könnte ebenso wie Mads an das Gute im Menschen glauben, aber bisher hat ihn das Leben keineswegs gelehrt, dass der Mensch gut ist. Vielmehr sagt ihm seine Erfahrung, dass der Mensch ein egoistisches und gewalttätiges Wesen ist. Seine Misanthropie ist ihm oft zuwider, aber er empfindet sie nicht als zynisch, sondern im Gegenteil als vernünftig. Trotzdem beneidet er seinen kleinen Bruder. Er glaubt an etwas, und man kann ihm ansehen, dass das Leben für ihn einen Sinn hat, trotz der Gräuel, die er miterleben muss.
Magnus ist nur fünf Jahre älter als Mads, aber manchmal hat er das Gefühl, im Geiste schon ein alter Mann zu sein. Er wünschte, er hätte den gleichen leichten Tritt auf seinem Weg durchs Leben wie sein Bruder, fürchtet aber zugleich, dass jene Leichtigkeit zusammen mit der Utopie, an die Mads sich klammert, eines Tages seinen Untergang mit sich bringen könnte. Außerdem ist er verzweifelt, weil er weiß, dass er Mads wieder verlieren wird. Die Erleichterung darüber, ihn wiedergefunden zu haben, wird von der Gewissheit erdrückt, dass es nur für eine begrenzte Zeit ist.
Die Kirche werde nicht mehr als Kirche genutzt, seit die
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