Die Wahrheit stirbt zuletzt
schrieb, denn so hatte ich einen Grund, nach Dänemark zurückzukehren. Die Sache dort wurde nämlich allmählich etwas heiß. Also …«
»Also hast du dich aus dem Staub gemacht.«
»Ich bin nach Hause gereist, um unserer Schwester einen Wunsch zu erfüllen. Wenn du das eine Flucht nennen willst, meinetwegen. Ich will mich nicht mit dir streiten, Mads. Du bist mein kleiner Bruder, und ich liebe dich, aber du bist jetzt ein Mann. Wenn ich an Gott glauben würde, würde ich ihn bitten, seine Hand schützend über dich zu halten. Ich entschuldige mich, dass ich dich gebeten habe, deine Leute im Stich zu lassen. Ich habe es für Marie und für mich selbst getan. Wir wollen dich nicht verlieren. Wir hätten einander eben beinahe umgebracht, Mads. Verflucht noch mal, Mann! Das hätten wir. Es ist einfach entsetzlich, sich das vorzustellen.«
Mads streckt die Hand nach ihm aus. Sie stehen eng beieinander, und Magnus spürt, wie ihm die Tränen in dieAugen steigen. Er will nicht weinen, aber er kann die Tränen nicht aufhalten und zittert am ganzen Körper.
Mads steht ganz still da, und Magnus spürt seinen Atem an seinem Hals. Als Mads ihn so fest umarmt, als wolle er ihn nie wieder loslassen, merkt er, wie sich erst in seiner aufgewühlten Seele und dann in seinem ganzen Körper Ruhe ausbreitet. Es ist ein herrliches Gefühl, aber auch ein unpassendes. Schließlich ist er der Ältere. Warum also hat er nicht die Kraft, zu trösten und zu verzeihen?
17
S ie sitzen dicht nebeneinander auf dem Stein und schauen auf den Fluss, in dem das Wasser so beruhigend dahinfließt wie ein kleines Musikstück. Die Sonne hat inzwischen einige Kraft, und ihre Kleidung trocknet allmählich. Sie haben ihre Jacken und Hemden ausgezogen und sie zusammen mit ihren Strümpfen auf die Steine gelegt. Ihre Schuhe haben sie in die Sonne gestellt.
Mads ist mager, aber sehnig und stark, sein Oberkörper ist weiß, aber seine Arme sind braun wie die eines Rübenbauern daheim in Dänemark. Sie lassen ihre nackten Füße baumeln, rauchen, reden über das Land ihrer Kindheit und halten sich dabei ausschließlich an die angenehmen Erinnerungen. Sie kramen Geschichten und Erinnerungsfetzen hervor, bei denen Marie oder ihre Mutter im Zentrum steht, und sie erzählen sich die eine oder andere Anekdote mehrfach, wenn sie von einem besonders schönen Erlebnis handelt oder sie sich damit gegenseitig zum Lachen bringen können. Es ist fast so, als säßen sie an einem sonnigen Tag am heimischen Fluss, nachdem sie gepaddelt hatten oder zelten gewesen waren. Die Stimmung zwischen ihnen ist auf einmal herrlich unbeschwert, und sie legt sich wohltuend und heilend auf die schwärenden Wunden der Vergangenheit.
Diese seelische Atempause wird jedoch schnell wieder von der spanischen Kriegsrealität eingeholt, als Mads erzählt, welche Rolle er in dem Bruderkrieg spielt. Dass sie ihn unmöglich gewinnen können, will er ganz offensichtlich nicht wahrhaben.
In den vergangenen fünf Jahren ist Mads’ Stimme tiefund melodisch geworden, auf eine harmonische und musikalische Weise gereift. Eine solche Stimme ist sicher ein wunderbares Instrument, wenn er den Kameraden seine Gedichte vorliest. Wie gern würde Magnus Mads einmal Gedichte vortragen hören. Mads könnte sicher eine Anstellung beim Rundfunk bekommen, dem neuen, wichtigen Medium der Zeit, wenn er nur nach Dänemark zurückkehren würde. Aber Magnus hat es aufgegeben, den kleinen Bruder überreden zu wollen. Vielleicht hat ihn auch bloß der Mut verlassen. Wie auch immer: Er muss sich jetzt nur darüber klar werden, was er Marie schreiben wird. Magnus lehnt sich zurück und blinzelt in die Sonne, während er Mads zuhört.
»Weißt du noch, als wir Kinder waren, Magnus? Wie alle anderen Jungen haben wir oft mit unseren Zinnsoldaten gespielt, aber besonders lustig war es in den Tagen um Neujahr herum, wenn wir uns Silvesterknaller beschafft hatten. Du warst zwar älter als ich, aber du hast immer gern mit mir gespielt. Du warst der beste große Bruder, den man sich vorstellen kann. Du hast mich immer verteidigt. Auf dem Schulhof hast du dich zwischen mich und die großen Jungen gestellt. Du hast mich immer ernst genommen. Du hast dich nie über meine wilden Träume lustig gemacht, ganz gleich, wie verrückt sie waren. Du hattest immer gute Ideen.
Wir haben Krieg gespielt. Wir haben gespielt, dass wir als Entdeckungsreisende im Wald und an den Seen unterwegs sind. Wir sind auf dem Fluss gesegelt und haben
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