Die Wahrheit über Alice
still, fast leer,
die Bühne ist abgeräumt.
Mick wartet nicht an der Bar, also gehe ich hinter die Bühne. Ich höre seine Stimme und steuere auf eine Tür zu, hinter der
ich Licht erkenne. Ich bleibe stehen und weiche einen Schritt zurück, als ich sie in dem Raum sehe. Alice.
Sie lehnt an einem Tisch, die langen Beine vor sich gekreuzt. «Ach, Mann», sagt sie, lallend und träge, offensichtlich betrunken.
«Stell dich nicht so an. Wer soll es denn erfahren?»
Mick hat ihr den Rücken zugewandt und rollt irgendwelche Kabel auf. Er schüttelt den Kopf.
«Du bist irre. Lass mich in Ruhe. Verzieh dich.»
«Ach. Komm schon.» Sie lacht und wirft ihre Haare aufreizend nach hinten. Es ist eine vergeudete Geste. Mick schaut sie nicht
mal an. «Gratissex. Wenn das kein Angebot ist. Bedingungsloser toller Sex. Wie kannst du da Nein sagen? Was bist du für ein
Mann?»
Mick lacht auf. «Die Frage ist eher, was bist du für ein Mensch? Was bist du für eine Freundin?» Und dann dreht er sich zu
ihr um, sieht mich und verharrt. «Katherine.»
Alice blickt in meine Richtung. Einen winzigen Augenblick |285| lang wirkt sie erschrocken, aber sie fängt sich gleich wieder, lächelt und streckt einen Arm aus. «Katherine!»
Ich bleibe in der Tür stehen und starre Alice an. «Was machst du hier?»
«Och, ich hab die Ankündigung in der Zeitung gesehen. Und da hab ich gedacht, es wäre eine nette Geste, wenn ich herkomme
und zuhöre, wie dein Freund spielt.» Sie hebt den Arm in Micks Richtung. «Ich hab eigentlich gedacht, du wärst auch da, Katherine.
Hatte gehofft, wir könnten endlich mal wieder ein bisschen quatschen. Du bist ja in letzter Zeit ziemlich untergetaucht.»
Einen Moment lang bin ich versucht, sie zur Rede zu stellen, zu fragen, warum sie so versessen darauf ist, mir wehzutun. Aber
ich entscheide mich rasch dagegen. Es bringt nichts. Ich will ihre Erklärung gar nicht hören. Was sie getan hat, lässt sich
weder rational erklären noch verzeihen, und ich habe keine Lust auf eine ihrer verlogenen Entschuldigungen. Ich will einfach
nur weg.
«Können wir gehen?» Ich sehe Mick eindringlich an.
«Ja.» Er lässt die Kabel liegen und schiebt sie mit dem Fuß auf einen Haufen. Er ist normalerweise eher pingelig, aber anscheinend
will er genauso schnell von Alice weg wie ich.
«Prima.» Alice klatscht in die Hände, richtet sich auf und wankt ein wenig. «Wo gehen wir hin?»
«Ich weiß nicht, wo DU hingehst.» Micks Stimme ist eiskalt. Er legt einen Arm um meine Schultern. «Wir gehen nach Hause.»
«Dann komm ich mit. Könnte doch ganz lustig werden. Mit uns dreien.» Sie bleibt dicht hinter uns, als wir den Pub verlassen
und die Straße hoch zu meinem Wagen gehen. «Drei ist besser als zwei. Findest du nicht auch, Katherine? Was?»
Als wir am Wagen sind, öffnet Mick für mich die Beifahrertür, doch ehe ich einsteige, drehe ich mich zu Alice um. «Geh nach |286| Haus. Verschwinde. Und lass mich in Zukunft einfach in Ruhe. Halt dich aus meinem Leben raus. Du bist krank. Du tust mir leid.
Du solltest dir Hilfe suchen.»
Sie schüttelt den Kopf und verzieht die Oberlippe zu einem höhnischen Grinsen. «Ich bin krank? Ich? Echt komisch. Ich hab
gedacht, wenn eine von uns beiden ein Problem hat, dann wärst du das, Katie. Ich hab gedacht, du wärst das, schließlich hast
du deine Schwester ja im Stich –»
«Katherine!», ruft Mick mit beschwörender Stimme. Er sitzt bereits hinterm Lenkrad und hat den Motor angelassen. «Steig einfach
ein. Steig ein und mach die Tür zu.»
Und das tue ich auch. Mick verriegelt die Türen, setzt den Blinker, beobachtet im Rückspiegel den fließenden Verkehr und wartet
auf eine Lücke, in die er einscheren kann. Alice blickt mir durch die Windschutzscheibe direkt in die Augen, und ich kann
einfach nicht den Blick von ihr lösen. Und genau in dem Moment, als Mick vom Bordstein losfährt, lächelt Alice – es ist mehr
ein kaltes und leeres Verziehen der Lippen – und macht einen Schritt nach vorne, direkt auf die Straße.
Ich schreie: «Mick! Stopp! Halt!» Doch es ist zu spät, und ich höre einen grässlichen, dumpfen Schlag, als Alice auf die Motorhaube
prallt.
«Scheiße! Gottverdammt!» Mick tritt voll auf die Bremse und springt eine Sekunde später auch schon aus dem Wagen.
Ich kann mich nicht bewegen. Ich kann einfach nicht hinschauen. Das Herz hämmert mir in der Brust, und ich starre blicklos
durch die
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