Die Wahrheit über Alice
Frontscheibe auf den entgegenkommenden Verkehr. Es ist vorbei, denke ich. Sie hat bekommen, was sie wollte. Alles
kaputt gemacht. Es ist vorbei. Es ist vorbei.
«Alice!» Ich höre Mick schreien, höre die Panik in seiner Stimme. «Ist alles in Ordnung? Bist du verletzt? Alice!»
Und dann höre ich es, ihr Lachen. Schrill und hysterisch.
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I ch packe gerade Kisten in unserer neuen Küche aus, als es passiert. Ich stehe auf und spüre ein wenig Flüssigkeit zwischen
den Beinen. Im ersten Moment weiß ich nicht, was das sein könnte, und frage mich sogar, ob ich mir in die Hose gemacht habe.
Ich eile ins Bad und ziehe die Hose runter. Blut.
Ich trockne mich so gut es geht mit Klopapier ab und laufe zu Mick. Er kniet auf dem Boden und räumt Bücher in unsere provisorischen
Regale ein. Er summt vor sich hin und nickt im Takt zu seiner eigenen Melodie. Er lächelt, als er aufschaut und mich sieht.
«Ich blute.»
«Was?» Er springt erschrocken auf. «Verdammt. Ist das schlimm? Es ist schlimm, nicht?»
«Ich weiß nicht. Ich glaube ja.»
«Komm, wir fahren ins Krankenhaus.»
Ich wickele mir ein altes Handtuch um die Hüfte. Mick schnappt sich die Autoschlüssel, und wir gehen vorsichtig nach unten
zum Wagen.
In der Notaufnahme herrscht Hochbetrieb, und die Schwester am Empfang warnt uns, dass wir uns auf eine lange Wartezeit gefasst
machen müssen.
«Aber sie könnte das Baby verlieren», sagt Mick. «Sie muss sofort untersucht werden.»
«Tut mir leid. Wir behandeln Patienten nach Dringlichkeit. Und falls Sie in dieser frühen Phase Ihrer Schwangerschaft eine |288| Fehlgeburt haben, können wir leider ohnehin nicht viel für Sie tun. Wir würden Sie nur beobachten.» Sie lächelt freundlich.
«Aber das muss ja nicht sein. Viele Frauen haben während der Schwangerschaft Blutungen und bringen dann völlig gesunde Babys
zur Welt. Nehmen Sie Platz und versuchen Sie, sich keine Sorgen zu machen.»
Mick und ich schlurfen vorsichtig zum Wartebereich herüber. Es sind keine zwei Plätze nebeneinander frei, aber als eine Frau
ohne Begleitung uns gemeinsam sieht, rückt sie einen Stuhl weiter, damit wir nebeneinandersitzen können. Mick bedankt sich,
und obwohl sie meinen Blick sucht und mitfühlend lächelt, schaue ich weg. Ich will von fremden Leuten weder Mitgefühl noch
Freundlichkeit. Wenn ich schon trauern muss, dann möchte ich das ganz für mich allein tun. Die vielen Wartenden haben unser
Gespräch mit der Schwester bestimmt gehört. Mit dem Handtuch um die Hüfte fühle ich mich auffällig und beobachtet.
Ich nehme Platz und schließe die Augen. Dann lege ich den Kopf auf Micks Schulter.
Vierzig Minuten später ruft eine Krankenschwester meinen Namen. Sie bittet Mick zu warten, doch als ich in Tränen ausbreche
und mich an seinem Arm festklammere, lässt sie ihn mitkommen. Sie führt uns zu einer Untersuchungsliege und bittet mich, darauf
Platz zu nehmen.
«Wie stark war die Blutung?»
«Ich weiß nicht genau. Kam mir stark vor.»
«Eine Monatsbinde voll? Mehr?»
«Vielleicht. Ja. Bloß eine Binde voll.»
Sie macht sich Notizen auf einem Blatt Papier. «Bluten Sie noch immer? Im Augenblick?»
«Ich glaube nicht. Ich weiß nicht. Ich spüre jedenfalls nichts.»
|289| «Gut. Wenn Sie nichts spüren, dann hat die Blutung vermutlich aufgehört.»
Sie notiert sich wieder etwas und misst meinen Blutdruck und meine Temperatur.
«Das ist alles in Ordnung. Die Ärztin kommt gleich. Legen Sie sich doch hin. Ruhen Sie sich aus.»
Sie breitet eine Decke über meine Beine und zieht die Vorhänge ringsherum zu, als sie geht.
Mick setzt sich auf den Stuhl neben der Liege und nimmt meine Hand.
«Ich hätte dich keine Kisten auspacken lassen sollen, nicht?», sagt er. Er sieht ganz elend aus.
«Nein. Das hat nichts damit zu tun. Ich hab doch gar nichts Schweres gehoben. Schwangere muss man nicht behandeln, als wären
sie krank.» Ich drücke tröstend seine Hand. «Überhaupt. Lass uns nicht gleich vom Schlimmsten ausgehen. Noch nicht.»
«Tut mir leid. Nein. Natürlich nicht. Ich will bloß so sehr, dass alles in Ordnung ist. Ich will nicht …»
«Ich doch auch nicht.» Ich beiße mir auf die Lippe und versuche, nicht zu weinen.
Und dann öffnet sich der Vorhang, und eine große, dünne Frau kommt herein. Sie hat krauses rotes Haar und erinnert mich irgendwie
an Philippa, wodurch ich mich absurderweise gleich besser fühle. Sie schiebt einen großen Apparat
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