Die Wahrheit über Alice
Kaffee.
«Hallo.» Ich setze mich ihr gegenüber und lächle.
Alice verdreht die Augen. «Ich hab das ganze Wochenende versucht, dich anzurufen. Wieso hast du nie dein Handy dabei?» Sie
ist gereizt, aber sie kann mir heute nicht die Laune vermiesen. Nichts kann das, dazu bin ich einfach zu glücklich.
«Was war denn los? Wolltest du irgendwas Besonderes?», frage ich heiter, ohne auf ihre Stimmung einzugehen. Ich erkläre nicht,
was passiert ist oder wo ich gewesen bin. Ich erwähne Mick mit keinem Wort. Das Ganze ist noch so neu für mich, so wunderbar,
und ich will es für mich behalten.
«Ich wollte dir nur was erzählen. Ich hab jemand Neues kennengelernt.» Sie beugt sich vor, die Augenbrauen hochgezogen. Ihr
Ärger ist offenbar schon wieder verflogen.
Mein erster Gedanke gilt Robbie. Wie unglücklich er sein muss.
«Oh.» Ich nehme die Speisekarte und starre blind auf die laminierte Pappe. «Ist es was Ernstes?»
«Was Ernstes? Also ehrlich, du könntest dich ruhig mal für mich freuen.»
Ich lege die Speisekarte hin und sehe Alice an. «Tut mir leid. Aber was ist mit Robbie? Weiß er es überhaupt schon? Das wird
ihn umhauen. Er –»
«Robbie-Schmobbie», fällt sie mir ins Wort. «Ich hab ihm |196| schließlich nie irgendwas versprochen. Ehrlich, Katherine. Das hab ich nie. Niemals. Im Gegenteil, ich habe ihm klipp und
klar zu verstehen gegeben, dass das mit uns nichts Ernstes ist. Er hat sich da irgendwas zusammengesponnen. Robbie wird sich
damit abfinden müssen. Wohl oder übel. Ich gehöre ihm nicht.»
«Natürlich.» Und ich begreife, dass es wahrscheinlich auf lange Sicht so am besten ist. In gewisser Weise bin ich sogar froh
für Robbie. Jetzt wird er der Wahrheit ins Auge sehen müssen, der Wahrheit, dass Alice sich einfach nichts aus ihm macht.
Es wird wehtun, aber er muss sie vergessen und sich jemand anderen suchen – ein Mädchen, das zu schätzen weiß, wie toll er
ist.
«Und?», sage ich. «Wer ist dein Neuer? Wie ist er?»
«Er ist umwerfend. Er ist wunderbar, attraktiv, sexy. Ich schwebe wie auf Wolken. Ich denke jede Sekunde an ihn.»
Ich lächle. Ich kann ihre Gefühle sehr gut nachvollziehen.
«Wie heißt er?»
Aber Alice antwortet nicht, sondern hebt stattdessen ihre Tasse an den Mund und schaut mich über den Rand an. «Er ist älter.»
«Älter?»
«Ja. Deutlich älter.»
«Wie viel älter?»
«Rate. Rate, wie alt er ist.»
«Fünfunddreißig?»
«Nein. Älter.»
«Vierzig?»
«Älter.»
«Fünfundvierzig?»
«Älter.»
Ich starre sie an. «Machst du Witze?»
«Nein. Na los. Du bist ganz nah dran.»
«Fünfzig?»
|197| «Achtundvierzig.»
«Ach, du Schande, Alice. Das ist Wahnsinn. Der ist doch steinalt. Stört ihn das nicht? Dass du erst achtzehn bist?»
Alice lächelt. «Vielleicht denkt er, dass ich siebenundzwanzig bin.»
«Du hast ihn angelogen?»
Sie zuckt die Achseln. «Nur ein bisschen übertrieben.»
«Aber er ist fast dreißig Jahre älter. Ist das nicht eigenartig?»
«Nein. Nein, überhaupt nicht. Du würdest dich wundern. Es ist toll. Er ist hochintelligent, Katherine, unglaublich klug. Es
kommt mir so vor, als hätte ich schon die ganze Zeit nach einem älteren Mann gesucht, weißt du, es ist einfach alles zigmal
besser. Er ist viel, viel reifer, viel offener und selbstsicherer und unabhängiger. Und er scharwenzelt nicht ständig um mich
herum wie ein liebeskrankes Hündchen, was echt eine Wohltat ist.» Sie lacht. «Und er ist wahnsinnig gut im Bett, total erfahren.
Er ist einfach unglaublich souverän.»
Ich habe Mühe, mich auf die Speisekarte zu konzentrieren, die ich wieder in die Hand genommen habe. Ich bin nicht hungrig,
dazu bin ich viel zu verliebt, aber Alice soll mein Missfallen und meine Ablehnung nicht spüren. Wenn ich mit ihr zusammen
bin, komme ich mir in letzter Zeit immer wie eine tadelnde und moralisierende ältere Schwester vor.
Ich bin nicht mal sicher, was genau mich an Alice’ neuer Beziehung stört. Immerhin sind sie beide erwachsen, und solange niemand
Schaden nimmt, sollte der Altersunterschied eigentlich keine Rolle spielen. Aber bei Alice sind die Dinge nun mal nie so einfach,
wie es auf den ersten Blick scheint.
«Er ist doch nicht etwa verheiratet, oder?», frage ich und kann einen misstrauischen Unterton nicht unterdrücken.
«Nein.» Alice streckt mir die Zunge raus. «Ist er nicht. Blöde Kuh.»
|198| «Sorry. Okay. Er ist nicht verheiratet. Das ist gut.»
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