Die Wahrheit über Alice
verlegen. Eigentlich ein lächerliches Gefühl, wenn jemand ermordet worden ist.
Aber wir konnten uns nicht mehr in die Augen sehen. Er kam mich weiter besuchen, und dann saß er jedes Mal stocksteif und
unglücklich da, und ich hab die ganze Zeit nur geheult. Schließlich hab ich ihm gesagt, dass ich ihn nicht mehr sehen will.
Er war total erleichtert.» Ich lache traurig. «Du hättest sein Gesicht sehen sollen. Er hat versucht, so zu tun, als wäre
er traurig über unsere Trennung. Aber er konnte gar nicht schnell genug wegkommen.»
«Ich schätze, ein Sechzehnjähriger ist mit so einer Situation einfach überfordert.»
«Und ob», sage ich. «Ich hab ihm auch gar keine Vorwürfe gemacht. Ich war selbst erleichtert. Es war so schrecklich, von ihm
bemitleidet zu werden. Aber er war zu höflich und nett, um mit mir Schluss zu machen.»
«Und seitdem?»
«Nichts», sage ich. «Niemand.»
«Dann bin ich ja ein Glückspilz.» Er lächelt und küsst mich auf die Stirn. «Aber wir können es langsam angehen lassen. Es |189| hat keine Eile. Ich kann warten. Ich will dich nicht unter Druck setzen.»
Aber ich weiß, was ich will, und die Vorstellung, noch länger zu warten, ist dermaßen frustrierend, dass sie mich nur noch
mehr in meinem Entschluss bestärkt. Ich schüttele den Kopf und lächle schüchtern, nehme seine Hand und lege seinen Arm um
mich. Dann rücke ich näher, bis unsere Körper eng beieinanderliegen, und presse meine Lippen auf seine.
«Katherine», sagt er anschließend. Wir atmen gegenseitig unsere Luft ein und liegen Seite an Seite, Gesicht an Gesicht.
«Mick», sage ich.
«Ich liebe deinen Namen. Er passt perfekt zu dir. Katherine. Katherine. Katherine und Mick.»
Und als er meinen Namen so ausspricht, zusammen mit seinem, ist alles anders. Eigentlich hat es mir nie gefallen, Katherine
genannt zu werden. Die ganze Zeit sehnte ich mich danach, Katie genannt zu werden, Katie zu sein.
Aber ich bin nicht mehr Katie, ich bin Katherine – und heute Nacht möchte ich auch zum allerersten Mal niemand anders sein.
|190| 24
D u läufst und läufst und läufst. Du läufst schnell, schneller als je in deinem Leben. Du strauchelst und stolperst, fällst
auf Hände und Knie, stehst sofort wieder auf, läufst weiter.
«Bitte, bitte», schluchzt du. «Helft mir. Bitte. Helft mir doch.»
Du hast rasende Angst, dass sie hinter dir her sind, dich verfolgen, dass sie mit jedem Schritt näher kommen. Dein keuchender
Atem klingt laut in deinen Ohren, betäubend laut, aber du meinst, sie hinter dir zu hören, und läufst noch schneller. Du blickst
nicht nach hinten, um nachzusehen, ob du verfolgt wirst, du bist so panisch, dass du nichts anderes tun kannst, als zu laufen.
Obwohl du Seitenstiche hast, keine Luft mehr bekommst, dir die Beine wehtun, zwingst du dich, nicht langsamer zu werden, dich
nicht umzudrehen, nicht zu einem hysterischen Häuflein zusammenzubrechen.
Und als du dich dem Licht näherst, erkennst du, dass es von einem Haus kommt, genau wie du gehofft hast. Und als du noch näher
kommst, siehst du, dass die Fenster geöffnet sind, um die Abendluft hereinzulassen, dass auf der Veranda Licht brennt und
ein Auto in der Einfahrt parkt. Es ist jemand zu Hause.
Du läufst die Einfahrt hoch, fällst auf die Veranda, rappelst dich hoch und springst zur Tür. Du hämmerst wie wahnsinnig mit
den Fäusten dagegen. Du trittst und schlägst um dich. Und du versuchst zu schreien.
Nach einem Moment wird die Tür aufgerissen. Eine Frau |191| steht da. Sie wirkt verärgert über die Ruhestörung. Doch als sie dich sieht, erkennt sie, dass du Angst hast, dass es ein
Notfall ist. Ihr Gesichtsausdruck schlägt in Bestürzung und Sorge um. Ihr Mund klappt auf, sie hebt eine Hand vor die Brust,
legt die andere auf deinen Arm.
«Was ist los?», fragt sie. «Was ist passiert?»
Als die Polizei eintrifft und die Gegend absucht, sind die Typen längst verschwunden. Sie haben Rachel einfach liegengelassen,
auf dem Rücken im Dreck, wie ein Tier. Einer der Polizisten versichert dir, dass sie friedlich aussieht, dass ihr kaltes,
totes Gesicht einen gelassenen und ruhigen Ausdruck trägt. Das lässt hoffen, so sagt er, dass sie nicht mehr mitbekommen hat,
was passiert ist. Sie wusste nicht, dass du sie da zurückgelassen hast. Allein mit ihnen.
|193| Teil zwei
|195| 25
A lice sitzt schon an einem Tisch in der Ecke des Cafés, als ich komme. Sie nippt an einer Tasse
Weitere Kostenlose Bücher