Die Wahrheit über Alice
Und dann grinse ich. «Also, was stimmt denn dann nicht mit ihm? Wieso
ist er in seinem fortgeschrittenen Alter nicht verheiratet?»
«Er war verheiratet. Seine Frau ist gestorben.»
«O nein. Wirklich? Wie furchtbar.»
«Wahrscheinlich.» Alice zuckt die Achseln. «Aber nicht für mich.»
Die Kellnerin kommt an den Tisch, und ich bestelle mir einen Kaffee und ein Sandwich. Alice bestellt noch einen Kaffee.
«Du isst nichts?», frage ich.
«Nein. Ich hab keinen Hunger.» Sie beugt sich vor, umschließt meine Hand mit ihrer und drückt sie. «Ich glaube, ich bin verliebt,
Katherine. Ich habe so etwas noch nie erlebt. Noch nie. Ich kann nicht essen. Ich kann nicht schlafen. Ich bin ständig high
vom Adrenalin. Ich hab keine Ahnung, wie ich in dem Zustand die Abschlussprüfungen bestehen soll. Ich kann kaum eine Illustrierte
lesen, geschweige denn Shakespeare. Ich warte immer nur auf einen Anruf von ihm. Ich fühle mich, als wäre ich nur halb am
Leben, wenn ich nicht mit ihm zusammen bin, in irgendeinem merkwürdigen Schwebezustand. Ehrlich, ich glaube, er könnte die
große Liebe meines Lebens sein.»
Und obwohl es mir mit Mick fast genauso geht, habe ich seltsamerweise nicht das Verlangen, Alice einzuweihen. Ich will ihr
gar nicht von all den wunderbaren neuen Gefühlen zu ihm erzählen, die durch meine Adern pulsieren. Wie sehr hat sich alles
verändert, seit ich Alice zuletzt gesehen habe! Ich stelle sogar fest, und das schockiert mich fast, dass ich ihr die ganze
Sache verheimlichen möchte. Ich will sie sicher aufbewahren, tief in mir verborgen, und sie für mich behalten.
Also lächle ich und höre zu, während sie mir alles erzählt: wo sie sich kennengelernt haben, wie sie zusammengekommen sind.
Aber ich erzähle ihr nichts von Mick. Kein Wort.
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M ir bleiben noch zehn Tage, um mich auf die Abschlussprüfungen vorzubereiten, die selbst nochmal zehn Tage dauern, bis ich
die Highschool für immer hinter mir habe, und diese zwanzig Tage kommen mir vor wie die längsten meines Lebens. Doch weder
die nervöse Wartezeit bis zu den Prüfungen noch die Prüfungen selbst machen mir zu schaffen, sondern die selbstauferlegte
Trennung von Mick. Ich kann mich unmöglich aufs Lernen konzentrieren, wenn wir zusammen sind, und so haben wir einvernehmlich
entschieden, dass wir uns in dieser Zeit am besten gar nicht sehen. Nur zwanzig Tage lang. Es kam uns beiden so vernünftig
vor, sogar ganz leicht. Aber ihn nicht zu sehen, fällt mir schwerer, als ich gedacht habe, und die Sehnsucht nach ihm bereitet
mir geradezu körperliche Schmerzen.
Ich habe mir den Schreibtisch zu Hause bequem zum Büffeln eingerichtet, mit sämtlichen Büchern und Unterlagen um mich herum.
Vivien macht bald eine einmonatige Geschäftsreise nach Europa. Doch jetzt ist sie zu Hause. Sie hat ausnahmsweise mal ein
paar reisefreie Wochen, und deshalb schmeißt sie den ganzen Haushalt, während ich lerne. Sie kocht für uns leckere, gesunde
Mahlzeiten und besteht darauf, den Abwasch allein zu machen, damit ich gleich wieder zurück an den Schreibtisch kann. Ich
lege jeden Tag gegen fünf eine längere Pause ein, in der ich einen Spaziergang mache, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen,
esse anschließend zu Abend und gehe wieder in mein Zimmer, um noch ein paar Stunden zu lernen.
|200| Meistens bin ich zu müde und hirntot, um länger als bis neun Uhr zu arbeiten, und wenn ich geduscht und meinen Pyjama angezogen
habe, hüpfe ich ins Bett und rufe Mick auf dem Handy an. Ich bin vor jedem Anruf ein bisschen nervös, weil ich Angst habe,
ich könnte ihn stören, er könnte genervt oder unfreundlich reagieren oder aus irgendeinem Grund nicht überglücklich sein,
dass ich mich melde. Aber jedes Mal, wenn ich anrufe, geht er fast augenblicklich dran und sagt meinen Namen, Katherine, und
er klingt immer so erleichtert und freudig, als hätte er sich genauso danach gesehnt, meine Stimme zu hören, wie ich mich
auf seine gefreut habe.
Er fragt mich jeden Abend, welchen Stoff ich gelernt habe und ob ich mich fit für die Prüfungen fühle. Er erzählt mir von
seinem Tag und wie seine Bandprobe gelaufen ist. Wenn er am Abend einen Gig hat, klingt er immer aufgekratzter und ein winziges
bisschen abgelenkt. Am liebsten telefoniere ich mit ihm, wenn er auch zu Hause ist, im Bett, und wir eine Stunde oder länger
miteinander reden. Wir reden, bis unsere Stimmen leise und schläfrig werden,
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