Die Wahrheit über Alice
mit ihr befreundet sein willst. Damit kommt
sie einfach nicht klar. Sie ist wahrscheinlich gekränkt, und ihr gewaltiges Ego hat einen Knacks bekommen.» Philippa bleibt
stehen und sieht mich an. «Aber du nimmst das doch nicht ernst, oder? Was sie sagt? Dieses ganze gemeine Zeug über Rachel?
Du weißt, dass das Schwachsinn ist.»
«Es ist schwer, einfach drüber hinwegzugehen», sage ich. Ich schaue nach unten auf den Gehweg und spreche leise. «Weil sie
nämlich recht hat. Ich habe Rachel im Stich gelassen. Ich bin tatsächlich weggelaufen. Das haben sogar die Verteidiger im
Prozess angeführt. Sie haben gesagt, diese Typen hätten nicht vorgehabt, uns zu töten. Es sei bloß passiert, weil sie ausgeflippt
sind und Panik gekriegt haben, als ich abgehauen bin.»
«Na und? Ist doch klar, dass die so was sagen. Natürlich können sie nicht zugeben, dass ihre Mandanten von vornherein geplant
hatten, Rachel zu töten. Das war bloß ihre letzte Chance, eine milderes Urteil rauszuschlagen. Deshalb muss es noch lange
nicht stimmen.»
Ich schaue mich um und sehe Alice mit forschen Schritten in die andere Richtung gehen. «Aber woher weiß sie, dass sie mich
genau damit treffen kann? Wie kommt es, dass sie immer den Finger in die Wunde legt, in der es am meisten wehtut? Wie kann
jemand, der so selbstbezogen ist, gleichzeitig so scharfsichtig sein?»
«Weil sie durch und durch niederträchtig ist. Sie ist ein verdorbenes Aas. Sie hat einen Instinkt für alles, was in dieser
Welt hässlich und gemein ist. Und außerdem hat sie vermutlich die Zeitungen durchforstet und gründlich recherchiert. Nach
irgendwas gesucht, womit sie dir richtig wehtun kann. Würde mich nicht überraschen.»
«Ja. Kann sein. Aber das ändert nichts daran, dass sie recht |258| haben könnte. Ich bin nun mal weggelaufen.» Ich schaue ihr direkt in die Augen. «Ich bin weggelaufen, Philippa.»
«Natürlich bist du weggelaufen.» Sie hält meinem Blick stand. «Was hättest du denn sonst machen können?»
«Ich hätte besser auf sie aufpassen können. Ich hätte dafür sorgen können, dass sie sich nicht so sinnlos betrinkt, dass sie
nicht mehr gehen konnte. Ich hätte sie verdammt nochmal nach Hause schicken können, statt sie mit auf die Party zu nehmen.»
«Ja, das hättest du tun können. Aber du hast es nicht getan. Und –»
«Genau. Ich habe es nicht getan», falle ich ihr ins Wort. «Aber ich hätte es tun müssen. Ich hätte so vieles tun müssen. Und
weißt du was? Da ist noch was. Etwas, das ich noch nie jemandem gestanden habe.»
«Was denn?»
«Ich war an dem Abend sauer auf Rachel. Ich war wütend, weil sie mit auf die Party gekommen ist. Ich wollte sie nicht dabeihaben.
Ich war böse auf sie. Es waren meine Freunde, und sie ging noch nicht mal gern auf Partys.» Und zu meiner eigenen Verblüffung
breche ich in verzweifeltes Schluchzen aus. «Sie hatte da doch gar nichts zu suchen!»
Philippa nimmt meinen Arm und führt mich über die Straße zu einem kleinen Park, wo wir uns auf eine Bank setzen. Ich vergrabe
das Gesicht in den Händen und weine. Philippa legt mir einen Arm um die Schultern und wartet einfach ab.
«Tut mir leid», sage ich, als ich mich einigermaßen wieder beruhigt habe. «Ich muss in letzter Zeit andauernd heulen. Einfach
jämmerlich.»
«Sag so was nicht. Weinen ist nicht jämmerlich.»
«Nein. Wohl nicht», sage ich. «Bloß, es hört einfach nie auf. Diese ganze Geschichte mit Rachel. Soll ich mich denn ewig |259| mies fühlen? Mein ganzes Leben? Ist das meine Strafe dafür, dass ich lebe?»
«Natürlich nicht.» Sie schüttelt den Kopf. «Aber weshalb genau fühlst du dich mies? Vielleicht solltest du es mir erzählen.
Es mir erklären. Ich meine, ich weiß es im Großen und Ganzen natürlich, klar, aber vielleicht solltest du versuchen, etwas
konkreter zu sein. Vielleicht solltest du versuchen, es in Worte zu fassen, es dir von der Seele reden oder so.»
Und obwohl ich ernsthaft bezweifele, dass Reden wirklich etwas bringt, spüre ich plötzlich den Drang, alles rauszulassen,
meine dunkelsten Gedanken zu beichten. «Ich war so wütend auf Rachel, weil sie mit auf die Party gekommen war», sage ich.
«Sie mochte Partys doch gar nicht, jedenfalls bis dahin. Normalerweise hätten sie keine zehn Pferde auf eine Party gebracht.
Aber auf einmal hatte sie sich irgendwie verändert. Peu à peu. Sie wurde immer geselliger. Ging mehr aus sich raus. Und das
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