Die Wahrheit über Alice
müssen ihnen eben beweisen, dass sie sich irren. Und wenn
meine Eltern dich erst einmal kennenlernen, werden sie dich lieben.»
«Und meine werden dich lieben», sage ich.
Doch ich wünschte, ich könnte mir so sicher sein, wie ich mich anhöre. Ich glaube absolut nicht, dass Mum und Dad über die
Situation glücklich sein werden. Ich kann mir ihre Gesichter |252| vorstellen, wenn ich es ihnen sage, Mums stumme Missbilligung und Dads Schockiertheit. Sie werden nicht viel sagen oder schimpfen,
sie würden mir gegenüber niemals laut werden oder mich anschreien, aber sie werden die Sache zweifellos für eine Tragödie
halten, ein Desaster, und der gequälte Ausdruck auf ihren Gesichtern wird tausendmal schwerer zu ertragen sein als jeder Wutausbruch.
Mir wäre es viel lieber, sie würden zetern und toben.
Mich bedrückt nicht nur der Gedanke an ihre mögliche Reaktion auf meine Schwangerschaft, sondern ich empfinde auch Schuldgefühle
wegen Rachel. Mein Leben entfaltet sich, geht weiter, schlägt neue und unerwartete Bahnen ein. Ich schaue nach vorn, wie mein
Therapeut beifällig gesagt hätte. Rachels Tod nimmt nicht mehr seine zentrale Rolle ein, er definiert mich nicht länger, und
ich sehe jetzt, dass ihr Leben und ihr Tod unweigerlich umso stärker in den Hintergrund treten werden, je länger ich lebe,
je mehr sich mein Leben entwickelt. Ich werde vergessen. Ich werde sie nicht mehr jeden Tag rund um die Uhr vermissen. Irgendwie
kommt mir das wie Verrat vor, wie ein weiteres Beispiel dafür, dass ich weglaufe und sie allein zurücklasse.
Und das muss auch meinen Eltern wehtun. Jedes Mal, wenn sich irgendwas Wichtiges in meinem Leben ereignet, ob ich den Schulabschluss
mache, mich verliebe oder schwanger werde, es kann ihnen nur auf grausame Weise vor Augen führen, was Rachel alles nie haben
und nie tun wird.
Ich schließe die Augen und versuche, nicht zu denken – nicht an Rachel und nicht an meine Eltern. Ich kuschle mich an Mick
an, atme den inzwischen so vertrauten Duft seiner Haut ein. Und obwohl ich erst eine Stunde wach bin, überkommt mich schon
wieder die Müdigkeit, und ich lasse mich erneut in einen süßen Schlaf des Vergessens sinken.
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S ehr schön», sage ich und schaue mich noch einmal in dem sonnendurchfluteten Wohnraum um. «Ein bisschen klein, aber schön
sonnig. Wird Mick gefallen, meinst du nicht?»
Die Wohnung ist klein, aber hell, hat einen Holzfußboden und weißgestrichene Wände. Von dem kleinen Schlafzimmer geht ein
noch kleinerer Raum ab, der in der Annonce als Arbeitszimmer bezeichnet worden war und ideal für ein Baby wäre. Die winzige
Einbauküche im Wohnraum besteht gerade mal aus Spüle, Herd und Schrank. Aber alles ist sauber und freundlich. Philippa tritt
neben mich und legt einen Arm um meine Schultern.
«Er wird die Wohnung lieben», sagt sie. «Weil du mit ihm hier wohnen wirst.»
«Findest du sie nicht zu klein?»
«Sie ist gemütlich.»
«Wir passen alle rein, nicht? Ich und Mick und das Baby.»
«Klar. Wie viel Platz braucht ein Baby schon?»
«Sollen wir uns bewerben?»
«Unbedingt. Und frag, ob du sie dir morgen nochmal anschauen kannst. Mit Mick. Aber keine Sorge, ich bin sicher, er wird begeistert
sein.» Und dann schlendert sie lächelnd in dem kleinen Raum umher. «Ich seh euch schon vor mir. Eure kleine Familie. Es wird
wunderbar sein. Genau wie im Märchen. Ihr werdet hier glücklich leben bis an euer seliges Ende. Und du bist die Prinzessin,
die Prinzessin in ihrem Schloss.»
|254| «Ein winzig kleines Schloss. Ein Einzimmerschloss», sage ich lachend. Aber mir gefällt Philippas Bild von meiner Zukunft.
Mir gefallen ihr Optimismus und ihre Überzeugung, dass wir wirklich glücklich sein können.
Ich fülle die Bewerbungsformulare aus und gebe sie dem Makler, und dann gehen Philippa und ich durchs Treppenhaus nach unten
auf die Straße.
«Lass uns irgendwo zu Mittag essen», sagt sie. «Oder hast du keinen Hunger?»
«Doch. Ich hab immer Hunger. Das Blöde ist nur, dass mir jetzt von so vielen Sachen schlecht wird, die ich normaler weise
gern esse.»
Und während Philippa und ich überlegen, wohin wir zum Lunch gehen sollen, sehe ich Alice. Sie steht auf der anderen Straßenseite,
aber es ist zu spät, um mich zu verstecken, um mit Philippa rasch in den nächsten Laden zu verschwinden, denn sie hat uns
bereits entdeckt. Sie steht ganz reglos da, starrt zu uns rüber und hat ein
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