Die Wahrheit über Alice
seltsames Lächeln im Gesicht. Mein Herzschlag
beschleunigt sich. Das kann kein Zufall mehr sein. Sie verfolgt mich.
«Was ist? Was hast du?» Philippa dreht sich in die Richtung, in die ich schaue. «Scheiße. Alice.»
Alice winkt. «Katherine! Moment! Warte mal.» Und ehe wir weitergehen können, überquert sie auch schon die Straße und kommt
auf uns zu.
«Wie geht’s dir? Was hat dein kleiner Test ergeben? War es das Ergebnis, das du erwartet hast?» Sie spricht mich direkt an,
ohne Philippa eines Blickes zu würdigen.
Und obwohl ich weiß, dass ich einfach weitergehen sollte, stehe ich da wie gelähmt.
«Ich wette, Helen ist überglücklich, dass sie Großmutter wird.» Sie verschränkt die Arme und schaut mich gehässig an. |255| «Oder hast du’s ihr etwa noch gar nicht erzählt? Was? Du hast gern deine schmutzigen kleinen Geheimnisse, oder, Katherine?
Miss Tugendhaftigkeit? Ach, übrigens, mir geht’s super, danke, ganz phantastisch, danke der Nachfrage.» Sie lächelt, ein jähes
unnatürliches Verziehen der Lippen, und runzelt dann genauso abrupt die Stirn. «Obwohl ich, wie ich zugeben muss, auch ein
bisschen enttäuscht bin, weißt du, fast verärgert, wo ich dich doch für meine Freundin gehalten habe.»
«Alice, wir sind in Eile», sagt Philippa. «Wir müssen weiter.»
Alice beachtet sie gar nicht. «Obwohl ich eigentlich gar nicht überrascht sein sollte. Bei allem, was ich über dich weiß,
nicht? Es kann eben keiner aus seiner Haut. Ein Feigling ist ein Feigling ist ein Feigling. Stimmt doch, Katherine, oder?»
Und dann lacht sie boshaft und legt dabei den Kopf in den Nacken. Plötzlich erstarrt sie und blickt mich eindringlich an.
«Aber du bist mehr als bloß ein Feigling, nicht wahr, Katherine? Du bist weggelaufen und hast zugelassen, dass deine Schwester
ermordet wurde. Und wenn man richtig darüber nachdenkt, wurde sie wahrscheinlich ermordet,
weil
du weggelaufen bist. Hast du die Möglichkeit schon mal in Betracht gezogen? Diese Jungs hätten euch beide wahrscheinlich nur
vergewaltigt. Wahrscheinlich haben sie es mit der Angst zu tun bekommen, als sie gesehen haben, dass du weg warst. Sie haben
es mit der Angst zu tun bekommen und die arme kleine Rachel getötet. Du bist also mehr als bloß ein Feigling, Katherine, nicht
wahr? Du bist eher eine Komplizin. Ich meine, es ist auch irgendwie deine Schuld, dass deine Schwester gestorben ist, oder?
Du hast deine eigene Haut gerettet. Auf Rachels Kosten. Du hast deine eigene kostbare Haut gerettet.»
«Halt die Fresse, Alice», schaltet Philippa sich ein, leise und kalt und todernst. Sie fasst meinen Arm und zieht mich an
sich. |256| «Halt deine verdammte Fresse, du blöde Fotze, oder ich hau dir dermaßen eine rein, dass du eine Woche nicht mehr aufstehst.»
Ich bin so verblüfft über Philippas Wut und ihre Ausdrucksweise, dass ich wie angewurzelt nur so dastehe und sie mit offenem
Mund anstarre.
«Aha. Alles klar.» Alice mustert Philippa von oben bis unten und grinst höhnisch. Doch ihre arrogante Souveränität ist verschwunden,
und in ihrer Stimme schwingt auf einmal ein Hauch von Unsicherheit mit. «Mit solchen Leuten verbringst du also jetzt deine
Zeit, Katherine? Prollvolk? Tja, ist ja irgendwie einleuchtend. Gleich und Gleich gesellt sich gern.»
Philippa legt einen Arm um meine Schultern und dreht mich von Alice weg. Wir gehen rasch in die andere Richtung.
«Macht’s gut, Mädels», ruft Alice mit falsch-freundlicher Stimme hinter uns her. «War echt nett, euch zu treffen. Bis bald,
hoffentlich.»
«Ich kann nicht glauben, dass du das eben wirklich gesagt hast», sage ich. Ich schüttele den Kopf, sowohl vor Entsetzen über
Alice als auch vor verblüfftem Vergnügen über Philippas unerwarteten Mut.
«Ich weiß. Ich konnte nicht anders, sie hat mich so wütend gemacht.» Sie seufzt. «Meine Mutter würde sich schämen.»
«Ich fand’s toll. Als würde Queen Elizabeth jemandem plötzlich Prügel androhen. Einfach toll.»
Philippa wirft einen Blick über die Schulter. «Wir können wieder langsamer gehen. Sie verzieht sich in die andere Richtung.
Diese Frau ist einfach furchtbar, Katherine. Völlig durchgeknallt. Kann einem richtig Angst machen.»
«Ich weiß. Meinst du, sie verfolgt mich? Ich begegne ihr andauernd, wenn ich es am wenigsten erwarte. Das kann doch kein Zufall
sein.»
|257| «Zuzutrauen wär’s ihr. Ich schätze, sie verkraftet es nicht, dass du nicht mehr
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