Die Wahrheit über Alice
andere Fünfzehnjährige auf
der Welt auch schon getan hat. Du hättest unmöglich wissen können, was passieren würde. Du musst aufhören, so zu denken, denn
das ist verrückt. Die Einzigen, die für Rachels Tod verantwortlich sind, sind ihre Mörder. Du warst ein Opfer, Katherine.
Du und Rachel und eure Eltern, ihr alle wart Opfer. Du bist in eine grauenhafte, unerwartete Situation |262| gebracht worden, in der du so gehandelt hast, wie du es für das Beste hieltest.»
Ich nicke artig und lächle, damit Philippa glaubt, dass ich mich jetzt besser fühle, dass sie etwas gesagt hat, was ich nie
zuvor gehört habe. Aber das Problem mit Worten ist, dass sie nicht verändern können, was du tief in dir empfindest, so einleuchtend
sie auch klingen mögen. Und allmählich wird mir klar, dass die Sache nie wirklich aufhören wird, dass es keine vollständige
Absolution geben kann. Ich werde mit Rachels Tod und mit meiner Rolle dabei leben müssen. Ich kann höchstens hoffen, dass
ich irgendwann lerne, mir selbst dafür zu verzeihen, dass ich keine vollkommene Schwester war.
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A ls ich später am Nachmittag nach Hause komme, wartet Mick bereits auf mich. Er reißt mit einem glücklichen Lächeln die Tür
auf, ehe ich dazu komme zu klopfen, und umarmt mich, sobald ich eintrete. «Wir haben eben einen Anruf bekommen», sagt er lachend.
«Wir haben die Wohnung. Wir können nächste Woche einziehen.»
Er nimmt meine Hand und zieht mich in die Küche, stellt mir einen Hocker hin und reicht mir ein Glas mit frischgepresstem
Orangensaft. Er ist gerade dabei zu kochen. Auf einem Teller häuft sich kleingeschnittenes Gemüse – Paprika, Pilze, Bohnen –, und die winzige Küche, in der normalerweise ein heilloses Chaos herrscht, ist ganz aufgeräumt.
«Ich dachte, wir essen zur Feier des Tages was Gesundes. Eine Gemüsepfanne.»
«Klingt toll.»
«Kann auch schiefgehen, aber ich geb mir alle Mühe. Übrigens, Philippa hat gesagt, ihr seid Alice über den Weg gelaufen?»
Er schaut mich besorgt an. «Geht’s dir gut?»
«Ja», sage ich. «Alles in Ordnung.» Ich setze mich schwerfällig auf den Hocker und stütze die Ellbogen auf die Arbeitsplatte.
«Philippa hat gesagt, Alice soll ein paar ziemlich gemeine Sachen gesagt haben. Sie hat gesagt, du warst ganz schön verstört.»
«War ich auch, ja. Aber eigentlich nicht wegen dem, was |264| Alice gesagt hat. Nein. Ich … na ja, sie hat nichts gesagt, was ich selbst nicht auch schon tausendmal gedacht habe. Es war wohl gar nicht Alice, die
mich so durcheinandergebracht hat.»
«Wie meinst du das?»
«Na ja. Natürlich ist sie ein schlechter Mensch, keine Frage. Und sie ist vorsätzlich gemein zu mir, das weiß ich. Und ihre
Bosheit ist beängstigend, genau wie die Art, wie sie mich verletzen will. Aber was sie gesagt hat, geht mir ohnehin immer
wieder durch den Kopf. Es ist schon die ganze Zeit da. Ich bin schließlich wirklich weggelaufen, und ich habe Rachel wirklich
ihren Mördern überlassen.» Ich hebe die Hand und spreche extra lauter, als ich sehe, dass Mick etwas einwenden will. «Das
ist alles wahr. Das sind unbestreitbare Tatsachen. Und ich habe sie mit auf die Party genommen und Alkohol trinken lassen.
Ich hatte die Verantwortung für sie. Das sind Gedanken, die ich immer schon hatte. Sie sind ein Teil von mir. Alice hat sie
mir nicht in den Kopf gesetzt. Ich hab sogar das Gefühl, dass Alice als Einzige absolut ehrlich zu mir ist. Sie ist die Einzige,
die sich traut, all das auszusprechen, was jeder irgendwann mal gedacht haben muss.»
«Aber du konntest doch nicht –»
«Bitte, Mick», unterbreche ich ihn. «Hör einfach zu. Ich bin noch nicht fertig.»
«Okay», sagt er ergeben. «Sprich weiter.»
«Sorry. Aber mir ist heute einfach was klargeworden. Etwas Gutes, glaube ich.»
Er nickt.
«Ich habe immer gedacht, es würde irgendwann eine Zeit kommen, wo ich mich besser fühle. Wie durch Zauberhand. Ich habe gedacht,
ich würde eines schönen Tages aufwachen und nicht mehr traurig sein. Mich nicht mehr schuldig fühlen. Ich wäre drüber weg.
Und auf den Tag habe ich die ganze Zeit |265| gewartet. Ich habe gedacht, wenn dieser Tag kommt, würde es mir schlagartig bessergehen, und ich würde mein Leben wieder richtig
leben und genießen können.» Ich lache, weil mich die Rührung ein wenig verlegen macht. «Aber heute ist mir endlich klargeworden,
dass das nicht passieren wird. Es wird
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