Die Wahrheit über Alice
gefiel mir nicht. Sie sollte doch die Schüchterne sein. Die Brave. Das Genie. Das Partygirl war ich, nicht sie. Ich war die
Beliebte … Ich hatte das Gefühl, dass sie mir das wegnehmen würde. Sie war so talentiert, so perfekt. Wenn sie auch noch kontaktfreudig
wurde, dann hätte sie … ich weiß nicht, dann hätte sie alles gehabt. Alle hätten sie noch toller gefunden. Ich wäre unsichtbar geworden.» Meine
Stimme ist jetzt schwach und voller Scham. «Ich hab sie dafür gehasst.»
Philippa schweigt einen Moment nachdenklich, und ich frage mich, ob ich es mir mit ihr mit meinem Geständnis verdorben habe.
«Als Mick klein war», sagt sie schließlich, «war er in der Schule eine absolute Niete. Er war in allem schlecht. Lesen. Mathe.
In jedem Fach. Ohne Nachhilfe wäre er glatt sitzengeblieben. Die Gescheite war ich, und ich hab immer so getan, als tue er
mir leid. Aber insgeheim hab ich es genossen. Ich hab’s genossen, |260| in der Schule so viel besser zu sein als er, weil er in allem anderen besser war. Er war gut in Sport und er war witzig, und
er sah gut aus, und er hatte jede Menge Freunde. Ich dagegen war die klassische Streberin mit scheußlichen roten Haaren und
Sommersprossen, wovon Mick völlig verschont geblieben ist, was absolut unfair ist, aber hey …» Sie blickt nach unten auf meinen Bauch. «Die Gene hat er allemal, also mach dich bei eurem Baby auf was gefasst. Jedenfalls,
als Mick in der Elften war, fing er an, sich zu verändern. Er nahm die Schule plötzlich richtig ernst und hat nur noch gebüffelt.
Und auf einmal gehörte er zu den Überfliegern, hat fast nur noch Bestnoten kassiert.» Sie schüttelt den Kopf. «Ich war so
was von sauer. So was von lächerlich eifersüchtig … und dabei hatte ich die Schule längst hinter mir. Ich konnte es nicht ertragen. Obwohl …» Und jetzt schmunzelt sie. «Zum Schulsprecher hat er es nie gebracht, im Gegensatz zu mir.»
Ich lache.
«Aber weißt du was?», fährt sie fort. «Heute bin ich heilfroh, dass er was auf dem Kasten hat. Ich fände es furchtbar, wenn
er mit Büchern nichts anfangen könnte, wenn er nicht lesen und nachdenken würde. Es wäre ätzend, wenn er ein Armleuchter wäre.
Wir hätten nichts mehr gemeinsam. Das wäre tragisch.»
«Wirklich tragisch», stimme ich zu.
«Siehst du? Jetzt hab ich mit meinem sinnlosen Geschwafel doch alles besser gemacht, oder? Du wirst wahrscheinlich nie wieder
eine Träne vergießen.» Philippa drückt mich fester und wird wieder ernst. «Du warst also nicht die perfekte Schwester. Na
und? Du hast niemanden umgebracht. Was passiert ist, war nicht deine Schuld. Du hast genau das getan, was jeder andere halbwegs
vernünftige Mensch in deiner Situation auch getan hätte. Hör mal, was glaubst du, wie es deinen Eltern gehen würde, wenn ihr
beide umgebracht worden wärt? Beide Töchter |261| tot? Wäre das besser gewesen? Denn das wäre passiert, wenn du nicht weggelaufen wärst, wenn du versucht hättest zu kämpfen.
Du hättest alles nur noch schlimmer gemacht.»
«Vielleicht», sage ich. «Vielleicht auch nicht. Wir werden es nie wissen, oder? Aber ich habe sie mit auf die Party genommen.
Und wer weiß, wenn ich einfach geblieben wäre, wo ich war, da in dem dunklen Schuppen, dann hätten sie Rachel vielleicht vergewaltigt
und wären abgehauen. Vielleicht hätten sie sie nicht umgebracht, wenn ich nicht weggelaufen wäre. Vielleicht wäre sie noch
am Leben.»
«Aber wenn du das so sehen willst, wenn du dir Vorwürfe machen willst, weil du weggelaufen bist oder weil du Rachel mit auf
die Party genommen hast, was ist dann mit deinen Eltern? Sie müssten sich Vorwürfe machen, weil sie nicht zu Hause waren.
Sie müssten sich Vorwürfe machen, weil sie dir überhaupt erst die Verantwortung für deine Schwester überlassen haben. Und
was ist mit dem Jungen, deinem damaligen Freund, der dich in das Auto hat einsteigen lassen? Der müsste sich auch Vorwürfe
machen. Die Schuldgefühle könnten sich auf alle ausbreiten, wie Gift. Ja, vielleicht hat jeder, der irgendwie von der Sache
betroffen ist, Grund zur Reue und fragt sich, ob alles anders gekommen wäre, wenn er doch nur dies oder jenes gemacht hätte.
Aber eine unkluge Entscheidung macht dich nicht zur Mörderin. Du warst ein fünfzehnjähriges Mädchen, und du bist auf eine
Party gegangen. Du hast gegen ein Verbot verstoßen. Na und? Du hast nichts getan, was nicht jede
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