Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
dagegen.«
»Was soll ich dort allein?«
»Sie werden nicht allein sein, Harry. Ich werde bei Ihnen sein, in Ihrem Kopf. Und wir werden zusammen tanzen! Egal, was passiert, ich werde immer in Ihrem Kopf sein!«
Bei diesen Worten war er hochgefahren. »Was heißt egal, was passiert ? Was willst du damit sagen?«
»Nichts, Harry. Nicht böse sein, liebster Harry. Damit wollte ich nur sagen, dass ich Sie immer lieben werde.«
Nola zuliebe ging er also auf den Ball, wenn auch unmutig und allein. Kaum war er dort, bereute er es auch schon, denn er fühlte sich unwohl unter all den Menschen. Um Fassung ringend, setzte er sich an die Bar und trank ein paar Martinis. Dabei sah er zu, wie nach und nach die Gäste eintrafen. Rasch füllte sich der Saal, das Stimmengewirr schwoll an. Er bildete sich ein, dass ihn alle anstarrten, als wüssten sie, dass er ein fünfzehnjähriges Mädchen liebte. Als er spürte, dass er schwankte, suchte er die Toilette auf, um sich kaltes Wasser ins Gesicht zu klatschen. Danach schloss er sich in einer Kabine ein und setzte sich auf die Kloschüssel, um zur Besinnung zu kommen. Er atmete tief durch: Ruhig Blut! Niemand konnte von ihm und Nola wissen. Sie waren immer sehr vorsichtig und diskret gewesen. Es gab keinen Grund zur Nervosität. Vor allem musste er ganz natürlich bleiben. Nach einer Weile beruhigte er sich und spürte, wie sich sein Magen entkrampfte. Er öffnete die Tür, und da sah er den roten Lippenstift auf dem Spiegel:
MÄDCHENFICKER
Ihn befiel Panik. »Hallo? Ist da wer?«, rief er. Er blickte sich um und stieß sämtliche Toilettentüren auf: kein Mensch. Die Kabinen waren leer. Hektisch griff er nach einem Handtuch, machte es nass und wischte damit die Schrift weg, die auf dem Spiegel eine lange, rote Schliere hinterließ. Dann verließ er die Toilette fluchtartig. Gegen die Übelkeit kämpfend, mit schweißnasser Stirn und pochenden Schläfen kehrte er in den Ballsaal zurück, und versuchte zu wirken, als wäre nichts gewesen. Wer wusste von ihm und Nola?
Im Saal hatte man bereits zu Tisch gebeten, die Gäste strebten zu ihren Plätzen. Er hatte das Gefühl, gleich durchzudrehen. Da fasste ihn eine Hand an der Schulter. Er fuhr zusammen. Es war Amy Pratt. Er war vollkommen durchgeschwitzt.
»Ist alles in Ordnung, Harry?«, erkundigte sie sich.
»Ja … Ja … Mir ist nur ein bisschen warm.«
»Sie sitzen am Ehrentisch. Kommen Sie, er ist gleich da drüben.«
Sie führte ihn zu einem großen, mit Blumen geschmückten Tisch, an dem bereits ein etwa vierzigjähriger Mann saß, der sich ziemlich zu langweilen schien.
»Harry Quebert«, verkündete Amy Pratt feierlich, »darf ich Ihnen Elijah Stern vorstellen? Er finanziert großzügigerweise diesen Ball. Ihm ist es zu verdanken, dass die Karten so preiswert sind. Übrigens gehört ihm das Haus in Goose Cove, in dem Sie wohnen.«
Elijah Stern streckte lächelnd die Hand aus. Harry musste lachen.
»Sie sind also mein Hausbesitzer, Mr Stern?«
»Nennen Sie mich Elijah. Ich freue mich, Sie kennenzulernen.«
Nach dem Hauptgericht gingen die beiden Männer nach draußen, um eine Zigarette zu rauchen und sich auf dem Rasen des Countryclubs ein wenig die Füße zu vertreten.
»Gefällt Ihnen das Haus?«, erkundigte sich Stern.
»Und wie! Es ist ein Traum.«
Elijah Stern ließ seine Zigarettenspitze aufglühen und erzählte voller Wehmut, dass Goose Cove über Jahre das Ferienhaus seiner Familie gewesen sei. Sein Vater hatte es bauen lassen, weil seine Mutter unter schrecklichen Migräneanfällen gelitten hatte und die Seeluft ihr nach Ansicht der Ärzte Linderung verschaffen würde.
»Als mein Vater dieses Grundstück am Meer gesehen hat, war es Liebe auf den ersten Blick. Er hat es auf der Stelle gekauft, um dort ein Haus zu bauen. Die Pläne hat er selbst gezeichnet. Ich habe diesen Ort geliebt. Wir haben dort so viele schöne Sommer verlebt. Aber die Zeit verging, mein Vater ist gestorben, meine Mutter nach Kalifornien gezogen, und niemand hat mehr in Goose Cove gewohnt. Ich liebe dieses Haus und habe es vor ein paar Jahren sogar renovieren lassen. Aber ich bin nicht verheiratet, habe keine Kinder und auch kaum noch Zeit, das Haus zu nutzen, das sowieso zu groß für mich ist. Deshalb habe ich eine Agentur damit beauftragt, es zu vermieten. Die Vorstellung, dass es unbewohnt ist und langsam verfällt, fand ich unerträglich. Ich bin froh, dass jetzt jemand wie Sie dort lebt.«
Stern erklärte, dass er in Aurora
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