Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
Aurora mitnehmen? Hatte er hier eine Eroberung gemacht, er, der immer so diskret war? Und würden die Zeitungen über die Stars berichten?
Der Einzige, der keinen Gedanken an die Reise verschwendete, war Harry. Er war am Montagmorgen, den 21. Juli, zu Hause und halb krank vor Sorge: Wer wusste von ihm und Nola? Wer war ihm auf die Toilette gefolgt? Wer hatte die Dreistigkeit besessen, dieses infame Wort auf den Spiegel zu schmieren? Lippenstift – also war es mit ziemlicher Sicherheit eine Frau gewesen. Aber wer? Um sich zu beschäftigen, setzte er sich an den Schreibtisch und machte sich daran, das, was er geschrieben hatte, zu ordnen. Dabei fiel ihm auf, dass ein Blatt fehlte. Ein Text über Nola, den er am Tag ihres Selbstmordversuchs geschrieben hatte. Er erinnerte sich genau daran, dass er das Blatt hierhin gelegt hatte. Er hatte seine Entwürfe mittlerweile bestimmt eine Woche als losen Stapel auf dem Schreibtisch herumliegen lassen, aber er nummerierte sie immer streng durch, um sie später sortieren zu können. Aber jetzt, als er sie geordnet hatte, stellte er fest, dass dieses Blatt fehlte. Also sortierte er die Seiten noch zweimal und leerte sogar seine Aktentasche aus: Die Seite blieb verschwunden. Das konnte nicht sein. Bevor er das Clark’s verließ, kontrollierte er den Tisch immer ganz genau, um sicherzugehen, dass er nichts vergaß. In Goose Cove arbeitete er immer nur in seinem Büro, und wenn er sich doch einmal auf der Terrasse niederließ, legte er das, was er dort geschrieben hatte, anschließend auf seinen Schreibtisch. Er konnte das Blatt also nicht verloren haben. Wo war es dann? Nachdem er das ganze Haus vergeblich danach abgesucht hatte, überlegte er, ob womöglich jemand hier gewesen war, um nach kompromittierenden Beweisen zu suchen. War es dieselbe Person gewesen, die am Ballabend dieses Wort auf den Toilettenspiegel geschmiert hatte? Bei dieser Vorstellung wurde ihm so übel, dass er sich fast übergeben hätte.
An diesem Tag wurde Nola aus der Klinik in Charlotte’s Hill entlassen. In Aurora angekommen, war ihr erster Impuls, zu Harry zu gehen. Am Spätnachmittag machte sie sich auf den Weg nach Goose Cove. Harry war am Strand, er hatte die Blechdose dabei. Als sie ihn sah, warf sie sich ihm in die Arme. Er hob sie hoch und wirbelte sie durch die Luft.
»Ach, Harry, allerliebster Harry! Es hat mir so gefehlt, mit Ihnen hier am Strand zu sein!«
Er drückte sie, so fest er konnte. »Nola! Allerliebste Nola …«
»Wie geht es Ihnen, Harry? Nancy hat mir erzählt, dass Sie bei der Tombola den ersten Preis gewonnen haben.«
»Ja, stell dir vor!«
»Einen Aufenthalt für zwei Personen auf Martha’s Vineyard! Und für wann?«
»Das Datum ist flexibel. Ich muss nur im Hotel anrufen und reservieren, wenn ich Lust darauf habe.«
»Nehmen Sie mich mit? Oh, Harry, bitte nehmen Sie mich mit! Dort können wir glücklich sein, ohne uns zu verstecken!«
Er antwortete nicht darauf. Sie gingen ein paar Schritte am Strand entlang und sahen zu, wie sich die Wellen auf dem Sand verliefen.
»Woher kommen eigentlich die Wellen?«, fragte Nola.
»Von weit her«, antwortete Harry. »Sie kommen von weit her, um das Ufer des großen Amerikas zu sehen und zu sterben.« Er betrachtete Nola und umfasste plötzlich grimmig ihr Gesicht. »Verdammt, Nola! Warum wolltest du sterben?«
»Es ist nicht etwa so, dass man sterben will«, sagte Nola. »Es ist so, dass man nicht mehr leben kann.«
»Erinnerst du dich noch, was du damals nach der Schulaufführung hier am Strand zu mir gesagt hast? Du hast gesagt, ich soll mir keine Sorgen machen, weil du bei mir bist. Wie willst du auf mich aufpassen, wenn du dich umbringst?«
»Ich weiß, Harry, und ich bitte Sie um Verzeihung.«
Sie kniete auf dem Strand, an dem sie sich begegnet waren und auf den ersten Blick ineinander verliebt hatten, nieder, damit er ihr verzieh. Dann bettelte sie wieder: »Nehmen Sie mich mit, Harry. Fahren Sie mit mir nach Martha’s Vineyard. Nehmen Sie mich mit, und wir werden uns für immer lieben.« Er versprach es ihr in der Euphorie des Augenblicks. Aber als sich Nola wenig später auf den Heimweg machte und er ihr auf der Auffahrt von Goose Cove nachblickte, sagte er sich, dass er sie nicht mitnehmen konnte. Ausgeschlossen. Jemand wusste längst über sie Bescheid. Wenn sie zusammen verreisten, würde es die ganze Stadt erfahren, und er würde garantiert im Gefängnis landen. Er konnte sie nicht mitnehmen, und wenn sie ihn
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