Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
Foto«, meinte sie. »Sie müssen es Ihr Leben lang aufheben.«
»Mein Leben lang. Ich werde es nie hergeben.«
Sie waren jetzt seit vier Tagen hier.
Zwei Wochen früher
Es war Samstag, der 19. Juli, und damit der Tag des traditionellen Sommerballs. Das dritte Jahr in Folge fand er nicht in Aurora, sondern im Countryclub von Montburry statt, dem einzigen Ort, der dieses Anlasses würdig war – jedenfalls fand das Amy Pratt, die, seit sie als Organisatorin die Zügel in die Hand genommen hatte, alles daransetzte, den Ball zu einem großen gesellschaftlichen Ereignis zu machen. Sie hatte seine Abhaltung in der Turnhalle der Highschool von Aurora unterbunden, das Büfett abgeschafft und ein gesetztes Essen mit Tischordnung eingeführt, Krawattenzwang für die Herren verfügt und zwischen dem Ende des Diners und Tanzbeginn eine Tombola organisiert, die für Stimmung sorgen sollte.
In den Monaten vor dem Ball sah man Amy Pratt deshalb in der Stadt von Haus zu Haus gehen, um ihre überteuerten Tombolalose zu verkaufen, die niemand auszuschlagen wagte aus Angst, am Ballabend schlecht platziert zu werden. Böse Zungen behaupteten, die – erklecklichen – Erlöse aus dem Verkauf würden direkt in ihre Tasche wandern, doch niemand wagte es, öffentlich darüber zu reden. Schließlich galt es, sich gut mit ihr zu stellen. Angeblich hatte sie einmal absichtlich vergessen, einer Frau, mit der sie sich gestritten hatte, einen Platz zu geben, sodass die Arme zu Beginn des Essens allein mitten im Saal gestanden hatte.
Harry hatte eigentlich beschlossen, nicht zum Ball zu gehen. Er hatte sich zwar schon vor Wochen eine Karte gekauft, aber er war nicht in Ausgehlaune: Nola befand sich immer noch in der Klinik, und er war unglücklich. Er wollte allein sein. Doch Amy Pratt hatte morgens an seine Tür getrommelt. Sie hatte ihn seit Tagen nicht mehr in der Stadt gesehen, weder im Clark’s noch sonst wo. Sie wollte sich vergewissern, dass er sie nicht sitzen ließ: Er musste am Ballabend unbedingt anwesend sein, sie hatte nämlich allen erzählt, dass er kommen würde. Zum ersten Mal würde ein großer Star aus New York zugegen sein, und wer weiß, vielleicht brachte Harry ja im nächsten Jahr die Crème de la Crème des Showbusiness mit. Und in ein paar Jahren würden dann ganz Hollywood und der ganze Broadway nach New Hampshire kommen, um beim mittlerweile bedeutendsten gesellschaftlichen Ereignis der Ostküste dabei zu sein. »Sie kommen doch heute Abend, Harry, nicht wahr?«, hatte sie ihn bekniet, und am Ende hatte er ihr versprochen, dass er kommen würde, vor allem deshalb, weil er nicht Nein sagen konnte, und sie hatte es doch tatsächlich geschafft, ihm auch Tombolalose für fünfzig Dollar anzudrehen.
Später an diesem Tag war er zu Nola in die Klinik gefahren. Unterwegs hatte er in einem Geschäft in Montburry wieder Opernplatten gekauft. Er hatte nicht widerstehen können, weil er wusste, wie glücklich die Musik sie machte. Doch er gab zu viel Geld aus, eigentlich konnte er sich das nicht mehr leisten. Er wagte gar nicht, sich vorzustellen, wie es auf seinem Bankkonto aussah. Nicht einmal den Restsaldo wollte er wissen. Seine Ersparnisse schmolzen dahin, und wenn er so weitermachte, hatte er bald kein Geld mehr, um das Haus bis Ende des Sommers zu bezahlen.
Im Krankenhaus waren sie im Park spazieren gegangen, und im Schutz einer Baumgruppe hatte Nola die Arme um ihn geschlungen.
»Harry, ich möchte von hier weg …«
»Die Ärzte haben gesagt, dass du in ein paar Tagen entlassen wirst.«
»Sie haben mich nicht richtig verstanden: Ich möchte aus Aurora weggehen. Mit Ihnen. Hier werden wir nie glücklich.«
»Irgendwann«, hatte er geantwortet.
»Irgendwann was ?«
»Irgendwann werden wir fortgehen.«
Ihr Gesicht hatte sich aufgehellt. »Wirklich, Harry? Wirklich? Werden Sie mich ganz weit wegbringen?«
»Ganz weit. Und wir werden glücklich sein.«
»Ja! Sehr glücklich!«
Sie hatte ihn fest an sich gedrückt. Jedes Mal, wenn sie ihm so nahe kam, fühlte er, wie ein wohliger Schauer ihn überlief.
»Heute Abend ist der Ball«, hatte sie ihn erinnert.
»Ja.«
»Gehen Sie hin?«
»Ich weiß nicht. Ich habe es Amy Pratt versprochen, aber eigentlich bin ich nicht in der richtigen Stimmung.«
»Oh, gehen Sie hin, bitte! Ich träume davon, auf den Ball zu gehen. Ich habe immer davon geträumt, dass mich irgendwann jemand auf den Ball führt. Aber ich werde wohl nie hingehen … Mutter ist
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