Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
aufgewachsen sei und dort seine ersten Bälle und Liebesgeschichten erlebt habe. In Erinnerung an diese Zeit kam er einmal im Jahr hierher, und zwar immer zu diesem Ball.
Sie zündeten sich noch eine Zigarette an und setzten sich auf eine Steinbank.
»Und woran arbeiten Sie gerade, Harry?«
»An einem Liebesroman … Besser gesagt, ich versuche es. Wissen Sie, alle hier halten mich für einen großen Schriftsteller, aber da liegt ein Missverständnis vor.«
Harry hatte erkannt, dass Stern nicht zu den Menschen gehörte, denen man etwas vormachen konnte. Doch Stern entgegnete nur: »Die Leute hier sind sehr leicht zu beeindrucken. Man braucht sich nur anzusehen, was für eine traurige Entwicklung es mit diesem Ball genommen hat. Ein Liebesroman also?«
»Ja.«
»Wie weit sind Sie?«
»Ganz am Anfang. Offen gestanden fällt mir das Schreiben schwer.«
»Das ist ärgerlich für einen Schriftsteller. Sorgen?«
»Könnte man sagen …«
»Sind Sie verliebt?«
»Warum fragen Sie?«
»Aus Neugier. Ich frage mich, ob man verliebt sein muss, um einen Liebesroman zu schreiben. Jedenfalls beeindrucken mich Schriftsteller sehr. Vielleicht weil ich selbst gern einer geworden wäre. Oder ganz allgemein ein Künstler. Ich liebe die Malerei über alles, aber leider habe ich keinerlei künstlerisches Talent. Wie lautet der Titel Ihres Buchs?«
»Das weiß ich noch nicht.«
»Und was für eine Art von Liebesgeschichte ist es?«
»Die Geschichte einer verbotenen Liebe.«
»Das hört sich wirklich sehr interessant an«, sagte Stern begeistert. »Wir müssen uns unbedingt wiedersehen.«
Um einundzwanzig Uhr dreißig, nach dem Dessert, kündigte Amy Pratt die Ziehung der Tombolalose an, die wie jedes Jahr ihr Mann moderierte. Chief Pratt hielt sich das Mikrofon ein wenig zu nah an den Mund und betete die Gewinnzahlen herunter. Die mehrheitlich von ortsansässigen Geschäften gespendeten Preise waren allesamt im niederen Preissegment angesiedelt – bis auf den Hauptpreis, dessen Verlosung für große Spannung sorgte: ein einwöchiger Aufenthalt für zwei Personen inklusive Spesen in einem Luxushotel auf Martha’s Vineyard. »Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit«, rief der Chief aus vollem Hals. »Der Gewinner des ersten Preises ist … Achtung … die Nummer 1385!« Für einen Augenblick trat Stille ein. Dann bemerkte Harry plötzlich, dass es sich um eines seiner Lose handelte, und stand vollkommen überrascht auf. Tosender Applaus ging auf ihn nieder, und zahlreiche Gäste stürmten auf ihn zu, um ihm zu gratulieren. Bis zum Ende des Abends hatten die Menschen nur noch Augen für ihn: Er war der Nabel der Welt. Er dagegen hatte für keinen einen Blick übrig, denn der Nabel seiner Welt lag fünfzehn Meilen entfernt in einem kleinen Krankenhauszimmer und schlief.
Als Harry den Ball gegen zwei Uhr morgens verließ, traf er an der Garderobe auf Elijah Stern, der ebenfalls gerade aufbrach.
»Den Hauptgewinn bei der Tombola!«, meinte Stern lächelnd. »Sie sind ein richtiger Glückspilz.«
»Ja … Dabei hätte ich beinahe keine Lose gekauft.«
»Soll ich Sie nach Hause fahren?«, bot Stern an.
»Danke, Elijah, aber ich bin selbst mit dem Wagen hier.«
Sie gingen zusammen zum Parkplatz. Eine schwarze Limousine wartete auf Stern. Ein Mann stand davor und rauchte eine Zigarette. Stern zeigte auf ihn und sagte: »Harry, ich möchte Ihnen meine rechte Hand vorstellen. Er ist wirklich ein fabelhafter Bursche. Wenn Sie nichts dagegen haben, schicke ich ihn ab und zu nach Goose Cove, damit er sich der Rosen annimmt. Sie müssen bald geschnitten werden, und er ist ein begnadeter Gärtner, im Unterschied zu den Stümpern, die die Agentur immer schickt und die im vergangenen Sommer alle Pflanzen haben eingehen lassen.«
»Selbstverständlich, Elijah. Es ist Ihr Haus.«
Beim Näherkommen erkannte Harry, dass der Mann furchterregend aussah: Sein Körper war massig und muskulös, sein Gesicht schief und von Narben überzogen. Sie gaben sich zur Begrüßung die Hand.
»Ich bin Harry Quebert«, sagte Harry.
»Guten Abend, Mifter Quebert«, entgegnete der Mann, der offenbar nur sehr undeutlich und unter Schmerzen sprechen konnte. »Ich heife Lufer Caleb.«
Am Tag nach dem Ball begannen in Aurora die Spekulationen: Mit wem würde Harry Quebert nach Martha’s Vineyard fahren? Man hatte ihn in der Stadt nie mit einer Frau gesehen. Ob er eine Freundin in New York hatte? Vielleicht einen Filmstar? Oder würde er eine junge Frau aus
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