Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
Jenny wollte ihn nicht sehen.
»Luther? Du solltest nicht herkommen«, sagte sie zu ihm, als er an der Theke auftauchte.
»Jenny … Ef tut mir leid wegen neulich früh. Ich hätte deinen Arm nicht fo feft anpacken dürfen.«
»Ich habe davon einen blauen Fleck bekommen.«
»Ef tut mir fo leid.«
»Du musst jetzt gehen.«
»Nein, warte …«
»Ich habe dich angezeigt, Luther. Travis hat gesagt, wenn du dich in der Stadt blicken lässt, soll ich ihn anrufen, und dann kriegst du es mit ihm zu tun. Du gehst jetzt besser, bevor er dich hier sieht.«
Der hünenhafte Luther wirkte gekränkt. »Du haft mich angefeigt?«
»Ja. Du hast mir neulich früh solche Angst eingejagt …«
»Aber ich muff dir waf Wichtigef erfählen …«
»Es gibt nichts Wichtiges, Luther, und jetzt geh …«
»Ef geht um Harry Quebert …«
»Um Harry?«
»Ja, fag mir, waf du von Harry Quebert hälft.«
»Warum willst du das wissen?«
»Trauft du ihm?«
»Ob ich ihm traue? Aber sicher. Warum fragst du mich das?«
»Ich muff dir waf fagen …«
»Mir was sagen? Was denn?«
Gerade als Luther antworten wollte, fuhr ein Polizeiauto auf den Platz gegenüber vom Clark’s.
»Das ist Travis!«, rief Jenny. »Verschwinde, Luther, schnell! Ich will nicht, dass du Ärger bekommst.«
Luther nahm auf der Stelle Reißaus. Jenny sah, wie er in sein Auto stieg und davonraste. Kurz darauf kam Travis hereingestürmt.
»Habe ich da gerade Luther Caleb gesehen?«, fragte er.
»Ja«, antwortete Jenny. »Aber er wollte nichts von mir. Er ist ein netter Kerl. Ich bereue es, dass ich ihn angezeigt habe.«
»Ich habe dir gesagt, du sollst mich benachrichtigen! Niemand hat das Recht, Hand an dich zu legen! Niemand!« Travis rannte zu seinem Wagen zurück.
Jenny lief ihm nach und hielt ihn auf dem Gehsteig zurück. »Ich flehe dich an, Travis, tu ihm nichts! Bitte! Ich glaube, er hat es jetzt kapiert.«
Travis starrte sie an, und plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Deshalb war sie in letzter Zeit so unnahbar. »Nein, Jenny … Sag mir nicht, dass du …«
»Dass ich was?«
»Dass du auf diesen Spinner stehst!«
»Wie bitte?«
»Herrgott, wie konnte ich nur so dämlich sein!«
»Aber, Travis. Was redest du da?«
Er hörte ihr schon nicht mehr zu, sondern stieg in den Wagen und fuhr wie ein Verrückter mit Blaulicht und heulender Sirene los.
Auf der Route 1 bemerkte Luther auf der Höhe der Side Creek Lane im Rückspiegel das Polizeiauto, das ihn mittlerweile eingeholt hatte. Ängstlich hielt er am Straßenrand. Travis sprang wütend aus seinem Auto. Tausend Gedanken gingen ihm durch den Kopf: Wie konnte Jenny sich von diesem Monstrum angezogen fühlen? Wie konnte sie ihm diesen Kerl vorziehen? Er, der alles für sie tat, der in Aurora geblieben war, um in ihrer Nähe zu sein, war von diesem Typen ausgestochen worden! Er befahl Luther, aus dem Wagen zu steigen, und taxierte ihn von oben bis unten.
»Du Monster! Du hast dich an Jenny vergriffen!«
»Nein, Travif. Ich verfpreche dir, ef ift nicht fo, wie du denkft.«
»Ich habe den blauen Fleck an ihrem Arm gesehen!«
»Ich habe auf Verfehen fu feft fugepackt. Ef tut mir wirklich leid. Ich will keinen Ärger.«
»Keinen Ärger? Du machst den Ärger! Du bumst sie, was?«
»Wie?«
»Jenny und du – ihr treibt es zusammen, oder?«
»Nein! Nein!«
»Ich tue alles, um sie glücklich zu machen, und du bumst sie? Herrgott noch mal, was läuft auf dieser Welt nur schief?«
»Travif … Ef ift überhaupt nicht fo, wie du denkft.«
»Halt’s Maul!«, schrie Travis, packte Luther am Kragen und stieß ihn zu Boden.
Er wusste nicht recht, was er jetzt tun sollte. Er dachte an Jenny und daran, dass sie ihn abgewiesen hatte. Er fühlte sich erniedrigt und elend. Aber er war auch wütend, denn er hatte es satt, dass alle ständig auf ihm herumtrampelten. Es war Zeit, sich wie ein Mann zu benehmen. Also zog er den Schlagstock aus seinem Gürtel, hob den Arm und drosch wie ein Verrückter auf Luther ein.
15.
Vor dem Sturm
»Was halten Sie davon?«
»Nicht schlecht. Aber ich glaube, Sie messen den Wörtern zu viel Bedeutung bei.«
»Den Wörtern? Aber um die geht es doch beim Schreiben, oder nicht?«
»Ja und nein. Der Sinn eines Wortes ist wichtiger als das Wort selbst.«
»Wie meinen Sie das?«
»Nun, ein Wort ist ein Wort, und Wörter gehören allen. Sie brauchen nur ein Wörterbuch aufzuschlagen und eines auszuwählen. Ab da wird es interessant: Sind Sie imstande, diesem
Weitere Kostenlose Bücher