Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
Wort eine besondere Bedeutung zu verleihen?«
»Wie das?«
»Suchen Sie sich ein Wort aus, und wiederholen Sie es in einem Ihrer Bücher bei jeder Gelegenheit. Nehmen wir zum Beispiel das Wort Möwe. Dann werden die Leute über Sie sagen: ›Du weißt schon, Goldman, der Typ, der über die Möwen schreibt.‹ Und irgendwann kommt der Moment, wo diese Menschen beim Anblick von Möwen plötzlich an Sie denken müssen. Sie werden diese kleinen kreischenden Vögel ansehen und sich fragen: ›Was findet Goldman bloß an ihnen?‹ Schon bald werden sie Möwen mit Goldman assoziieren und müssen jedes Mal beim Anblick von Möwen an Ihr Buch und Ihr gesamtes Werk denken. Sie werden diese Vögel künftig mit anderen Augen sehen. Erst dann wissen Sie, dass Sie wirklich schreiben können. Wörter sind Allgemeingut, bis Sie beweisen, dass Sie imstande sind, sie sich anzueigenen. Das ist es, was einen Schriftsteller ausmacht. Und Sie werden sehen, Marcus: Manche Leute werden Sie davon überzeugen wollen, dass das Buch Ihr Verhältnis zu den Wörtern darstellt, aber das ist falsch: In Wirklichkeit geht es um das Verhältnis zu den Menschen.«
Montag, 7. Juli 2008, Boston, Massachusetts
Vier Tage nach Chief Pratts Festnahme traf ich mich mit Roy Barnaski in einem Nebenzimmer des Bostoner Park-Plaza-Hotels, um für mein Buch über den Fall Harry Quebert einen Vertrag über eine Million Dollar zu unterzeichnen. Douglas war ebenfalls anwesend. Er schien über den glücklichen Ausgang der ganzen Angelegenheit sehr erleichtert.
»Das Blatt hat sich gewendet«, sagte Barnaski zu mir. »Der große Goldman hat sich endlich wieder an die Arbeit gemacht. Applaus, bitte!«
Ich erwiderte nichts darauf, sondern zog lediglich einen Papierstoß aus meiner Aktenmappe und überreichte ihn. Er setzte ein breites Lächeln auf. »Das sind also Ihre berühmten ersten fünfzig Seiten …«
»Ja.«
»Sie gestatten, dass ich mir die Zeit nehme, einen Blick darauf zu werfen?«
»Aber gern.«
Douglas und ich verließen den Raum, damit Barnaski in Ruhe lesen konnte, und gingen hinunter an die Hotelbar, wo wir dunkles Bier vom Fass bestellten.
»Wie geht’s dir, Marc?«, fragte mich Douglas.
»Geht so. Die letzten vier Tage waren verrückt …«
Er nickte und legte noch eins drauf: »Die ganze Geschichte ist total verrückt! Du hast keine Ahnung, was dein Buch für einen Erfolg haben wird! Barnaski weiß das, darum bietet er dir so viel Kohle. Eine Million Dollar ist nichts im Vergleich zu dem, was er dabei rausholen kann. Wenn du wüsstest, was in New York los ist: Alle reden nur über diesen Fall. Die Filmstudios planen bereits einen Film, alle Verlage wollen ein Buch über Quebert bringen. Aber jeder weiß auch, dass eigentlich nur du dieses Buch schreiben kannst. Du bist der Einzige, der Harry kennt, und auch der Einzige, der Aurora von innen heraus kennt. Barnaski will sich diese Geschichte unbedingt sichern. Er sagt, wenn er der Erste ist, der ein Buch darüber bringt, könnte Nola Kellergan zur Galionsfigur von Schmid & Hanson werden.«
»Was hälst du davon?«, fragte ich Douglas.
»Dass es für einen Schriftsteller eine aufregende Sache ist. Und eine schöne Gelegenheit, den Ungeheuerlichkeiten, die über Quebert verbreitet wurden, etwas entgegenzusetzen. Das war doch ursprünglich dein Wunsch: ihn zu verteidigen, oder?«
Ich nickte und warf einen Blick über unsere Köpfe in Richtung der höheren Etagen, in denen Barnaski gerade dabei war, einen Teil meines Berichts kennenzulernen, für den die Ereignisse der letzten Tage noch einmal richtig Stoff geliefert hatten.
3. Juli 2008, vier Tage vor Unterzeichnung des Vertrags
Seit Chief Pratts Festnahme waren ein paar Stunden vergangen. Ich befand mich auf der Rückfahrt vom Staatsgefängnis, wo Harry kurz zuvor aus der Haut gefahren war und mir beinahe seinen Stuhl ins Gesicht geschleudert hätte, nachdem ich ihn von der Existenz eines Aktgemäldes von Nola im Haus von Elijah Stern in Kenntnis gesetzt hatte. Ich parkte vor dem Haus in Goose Cove, und als ich aus dem Wagen stieg, fiel mir sofort der Zettel im Türrahmen auf: wieder einer dieser Briefe. Doch diesmal war der Ton ein anderer:
Letzte Warnung, Goldman
Ich gab nichts darauf: erste oder letzte Warnung, was machte das schon für einen Unterschied? Ich warf den Zettel in der Küche in den Mülleimer und schaltete den Fernseher ein: Überall wurde über die Festnahme von Chief Pratt berichtet. Es wurden Zweifel an den
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