Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
verstanden habe, war Ihr Buch zu dem Zeitpunkt, als Nola und Sie sich zur Flucht entschlossen haben, so gut wie fertig …«
»Ich habe es wenige Tage vor der Abreise beendet. Ich habe schnell geschrieben, sehr schnell. Ich war wie in Trance. Alles war so außergewöhnlich: Nola, die immerzu da war, las, korrigierte, tippte … Das klingt jetzt vielleicht kitschig, aber es war magisch. Das Buch wurde am 27. August im Laufe des Tages fertig. Das weiß ich genau, weil es der letzte Tag war, an dem ich Nola gesehen habe. Wir hatten vereinbart, dass ich die Stadt zwei oder drei Tage vor ihr verlassen müsste, um keinen Verdacht zu erregen. Der 27. August war also unser letzter gemeinsamer Tag. Ich hatte den Roman in nur einem Monat geschrieben. Das war Wahnsinn! Ich war so stolz auf mich. Ich erinnere mich noch daran, wie die beiden Manuskripte auf dem Terrassentisch lagen: das handgeschriebene Original und Nolas Herkulesarbeit, also die auf der Maschine getippte Abschrift. Wir waren eine Weile am Strand, an dem wir uns drei Monate zuvor kennengelernt hatten. Wir machten einen langen Spaziergang. Irgendwann hat Nola meine Hand genommen und gesagt: ›Dass ich Sie getroffen habe, Harry, hat mein Leben verändert! Sie werden sehen, wie glücklich wir zusammen sein werden.‹ Wir setzten unseren Spaziergang fort. Unser Plan stand fest: Ich sollte Aurora am nächsten Morgen verlassen und vorher im Clark’s vorbeischauen, um mich zu zeigen und zu verbreiten, dass ich wegen dringender Geschäfte ein oder zwei Wochen nach Boston musste. Anschließend sollte ich zwei Tage in Boston bleiben und die Hotelrechnung aufheben, damit alles überzeugend wäre, falls die Polizei mich befragen würde. Dann, am 30. August, sollte ich ein Zimmer im Sea Side Motel an der Route 1 mieten. Zimmer 8, hatte Nola gesagt, weil sie die Zahl Acht so mochte. Ich habe sie gefragt, wie sie es anstellen wolle, zum Motel zu kommen, das doch immerhin mehrere Meilen außerhalb von Aurora liegt, und sie hat gesagt, ich solle mir keine Sorgen machen, sie würde eben schnell gehen, und außerdem kenne sie eine Abkürzung über den Strand. Sie wollte am frühen Abend gegen neunzehn Uhr in dem Zimmer zu mir stoßen. Dann wollten wir sofort aufbrechen, nach Kanada fahren und uns dort nach einer sicheren Bleibe, etwa nach einer kleinen Mietwohnung, umsehen. Ich sollte ein paar Tage später nach Aurora zurückkehren, als wäre nichts gewesen. Die Polizei würde dann sicher schon nach Nola suchen, aber ich sollte Ruhe bewahren. Wenn man mich befragte, sollte ich antworten, dass ich in Boston war, und die Hotelrechnung vorweisen. Ich sollte eine Woche in Aurora bleiben, um keinen Verdacht zu erwecken, und sie wollte unterdessen in aller Ruhe in unserer Wohnung auf mich warten. Danach sollte ich das Haus in Goose Cove räumen und Aurora mit der Begründung, dass mein Roman fertig war und ich mich nun um seine Veröffentlichung kümmern musste, für immer verlassen. Ich wollte zu Nola zurückkehren, das Manuskript per Post an mehrere Verlage in New York schicken und anschließend zwischen unserem Versteck in Kanada und New York pendeln, um die Herausgabe des Buchs voranzutreiben.«
»Und was wollte Nola tun?«
»Wir hätten ihr falsche Papiere besorgt, und sie wäre wieder auf die Highschool und später aufs College gegangen. Und wir hätten ihren achtzehnten Geburtstag abgewartet, und dann wäre sie Mrs Harry Quebert geworden.«
»Falsche Papiere? Aber das ist doch Wahnsinn!«
»Ich weiß. Es war Wahnsinn.«
»Und was ist dann passiert?«
»An jenem 27. August haben wir den Plan am Strand mehrmals durchgesprochen und sind dann ins Haus zurückgegangen. Wir haben uns auf das alte Sofa im Wohnzimmer gesetzt, das damals noch nicht alt war, es aber inzwischen ist, weil ich mich nicht davon trennen kann, und uns ein letztes Mal unterhalten. Ihre Abschiedsworte werde ich nie vergessen, Marcus. Sie hat zu mir gesagt: ›Wir werden so glücklich sein, Harry. Ich werde Ihre Frau. Sie werden ein großer Schriftsteller und Professor. Ich habe immer davon geträumt, einen Professor zu heiraten. An Ihrer Seite werde ich die glücklichste Frau der Welt sein. Und wir werden uns einen großen sonnengelben Hund zulegen, einen Labrador, den wir Storm nennen. Warten Sie auf mich, bitte, warten Sie auf mich.‹ Und ich habe geantwortet: ›Wenn es sein muss, werde ich mein ganzes Leben auf dich warten, Nola.‹ Das waren ihre letzten Worte, Marcus. Danach bin ich eingedöst, und
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