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Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Titel: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Dicker
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Sicherung durchgebrannt ist und er Nola getötet hat? Diese Geschichte riecht nach einem Verbrechen aus Leidenschaft. Das war übrigens ursprünglich Ihre Hypothese.«
    »Harry und ein Verbrechen aus Leidenschaft? Nein, das passt nicht zusammen. Wann kommt eigentlich das Ergebnis von dieser verdammten grafologischen Untersuchung?«
    »Bald, es kann sich nur noch um ein paar Tage handeln. Marcus, ich muss Ihnen etwas sagen. Die Staatsanwaltschaft wird Quebert einen Deal vorschlagen. Sie lässt den Vorwurf der Entführung fallen, und er bekennt sich des Verbrechens aus Leidenschaft für schuldig. Darauf stehen zwanzig Jahre Gefängnis. Bei guter Führung muss er fünfzehn davon absitzen. Keine Todesstrafe.«
    »Einen Deal? Warum? Harry hat sich nichts zuschulden kommen lassen.«
    Ich hatte das ungute Gefühl, dass wir irgendetwas außer Acht gelassen hatten, ein winziges Detail, das alles erklären konnte. Also ging ich noch einmal Nolas letzte Tage durch, aber im ganzen August 1975 bis zum fraglichen Abend am 30. August war in Aurora nichts Besonderes vorgefallen. Im Gegenteil: Durch die Gespräche mit Jenny Dawn, Tamara Quinn und anderen Bewohnern der Stadt hatte ich den Eindruck gewonnen, dass Nola Kellergan in den letzten drei Wochen ihres Lebens glücklich gewesen war. Harry hatte zwar von den Ertränkungsszenen berichtet, Pratt hatte beschrieben, wie er sie zum Oralsex gezwungen hatte, und Nancy hatte von fragwürdigen Verabredungen mit Luther Caleb erzählt, aber Jennys und Tamaras Aussagen vermittelten ein ganz anderes Bild: Ihren Schilderungen nach deutete nichts darauf hin, dass Nola geschlagen worden oder unglücklich gewesen war. Tamara Quinn hatte mir gegenüber sogar erwähnt, dass Nola sie gebeten habe, nach den Sommerferien wieder im Clark’s arbeiten zu dürfen, und dass sie eingewilligt habe. Das hatte mich dermaßen verblüfft, dass ich Tamara zweimal um Bestätigung gebeten hatte. Warum hätte Nola Vorkehrungen treffen sollen, um als Kellnerin weiterarbeiten zu können, wenn sie eine Flucht geplant hatte? Robert Quinn hatte mir berichtet, dass er ihr manchmal begegnet sei, als sie sich gerade mit einer Schreibmaschine abschleppte, aber sie habe dabei einen unbeschwerten Eindruck gemacht und vergnügt vor sich hingeträllert. Man hätte meinen können, Aurora wäre im August 1975 das Paradies auf Erden gewesen. Ich begann mich zu fragen, ob Nola tatsächlich die Absicht gehabt hatte, die Stadt zu verlassen. Plötzlich stieg in mir ein schrecklicher Zweifel auf: Wer garantierte, dass Harry mir die Wahrheit sagte? Woher konnte ich wissen, ob Nola ihn wirklich gebeten hatte, mit ihr fortzugehen? Und wenn alles nur eine List war, um sich vom Mord an ihr reinzuwaschen? Was, wenn Gahalowood von Anfang an recht gehabt hatte?
    Ich sah Harry am Nachmittag des 5. Juli im Gefängnis wieder. Er war in einer fürchterlichen Verfassung, sein Gesicht war aschfahl. Falten, die ich bei ihm noch nie gesehen hatte, hatten sich in seine Stirn gegraben.
    »Der Staatsanwalt will Ihnen einen Deal vorschlagen«, sagte ich.
    »Ich weiß. Roth hat es mir erzählt. Verbrechen aus Leidenschaft. Nach fünfzehn Jahren könnte ich rauskommen.« Am Klang seiner Stimme erkannte ich, dass er bereit war, diese Option in Erwägung zu ziehen.
    »Sagen Sie bloß nicht, Sie wollen auf dieses Angebot eingehen!«, rief ich aufgebracht.
    »Ich weiß nicht, Marcus … Immerhin ist es eine Möglichkeit, der Todesstrafe zu entgehen.«
    »Der Todesstrafe zu entgehen? Was soll das heißen? Dass Sie schuldig sind?«
    »Nein! Aber es spricht alles gegen mich! Und ich habe keine Lust, mich auf eine Pokerpartie mit den Geschworenen einzulassen, die ihr Urteil über mich sowieso längst gefällt haben. Fünfzehn Jahre Gefängnis, das ist immer noch besser als lebenslänglich oder der Todestrakt.«
    »Harry, ich stelle Ihnen diese Frage jetzt zum letzten Mal: Haben Sie Nola getötet?«
    »Natürlich nicht, Herrgott noch mal! Wie oft soll ich Ihnen das noch sagen?«
    »Dann werden wir es beweisen.« Ich holte erneut mein Aufnahmegerät hervor und stellte es auf den Tisch.
    »Verschonen Sie mich, Marcus! Nicht schon wieder dieses Gerät!«
    »Wir müssen herausfinden, was passiert ist.«
    »Ich will nicht mehr, dass Sie mich aufnehmen. Bitte!«
    »Also gut, dann mache ich mir eben Notizen.«
    Ich zog ein Heft und einen Stift heraus.
    »Ich würde gern an unsere Unterhaltung über Ihre geplante Flucht am 30. August 1975 anknüpfen. Wenn ich es richtig

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