Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
als ich wieder aufwachte, ging die Sonne gerade unter, und Nola war weg. Da war dieses rosafarbene Licht, das den Ozean schimmern lässt, und Scharen kreischender Möwen. Diese verdammten Möwen, die sie so liebte. Auf dem Terrassentisch lag nur noch ein Manuskript, nämlich das, das mir geblieben ist: das Original. Daneben der kurze Brief, den Sie in der Schachtel gefunden haben. Ich kenne ihn auswendig: Machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen, Harry, ich schaffe es schon irgendwie zu unserem Treffpunkt. Warten Sie in Zimmer 8 auf mich. Ich liebe diese Zahl, das ist meine Lieblingszahl. Warten Sie dort um neunzehn Uhr auf mich. Und dann gehen wir für immer fort. Ich habe nicht nach dem Manuskript gesucht. Mir war klar, dass sie es mitgenommen hatte, um es noch einmal zu lesen. Oder vielleicht um sicherzugehen, dass ich am 30. auch wirklich zum Treffpunkt ins Motel kam. Sie hat dieses verfluchte Manuskript mitgenommen, Marcus, wie sie es manchmal getan hat. Und ich habe am nächsten Tag die Stadt verlassen. So, wie wir es abgesprochen hatten. Ich bin im Clark’s vorbeigefahren und habe einen Kaffee getrunken, um mich sehen zu lassen und zu erzählen, dass ich eine Weile weg sein würde. Wie jeden Morgen war Jenny da, und ich habe zu ihr gesagt, dass mein Buch fast fertig ist und ich ein paar wichtige Termine in Boston habe. Und dann bin ich abgefahren. Ich bin abgefahren, ohne zu ahnen, dass ich Nola nie wiedersehen würde.«
Ich legte den Stift hin. Harry weinte.
7. Juli 2008
In Boston nahm sich Barnaski im Nebenzimmer des Park Plaza eine halbe Stunde, um die rund fünfzig Seiten zu überfliegen, die ich ihm mitgebracht hatte, bevor er uns rufen ließ.
»Und?«, fragte ich ihn, als ich den Raum betrat.
Seine Augen leuchteten. »Es ist einfach genial, Goldman! Genial! Ich wusste, dass Sie der richtige Mann sind!«
»Vorsicht, bei diesen Seiten handelt es sich vor allem um Notizen von mir. Es sind Fakten darunter, die nicht veröffentlicht werden dürfen.«
»Aber sicher, Goldman, aber sicher. Die Korrekturfahnen müssen sowieso Sie absegnen.«
Er bestellte Champagner, breitete die beiden Ausfertigungen des Vertrags auf dem Tisch aus und fasste den Inhalt noch einmal zusammen: »Ablieferung des Manuskripts Ende August. Bis dahin sind die Schutzumschläge schon fertig. Redaktion und Satz innerhalb von zwei Wochen, Druck im Lauf des Monats September. Voraussichtlicher Erscheinungstermin letzte Septemberwoche. Spätestens. Ein perfektes Timing! Genau vor den Präsidentschaftswahlen und mehr oder weniger parallel zu Queberts Prozess! Ein phänomenaler Marketingcoup, mein lieber Goldman! Hipp, hipp, hurra!«
»Was ist, wenn der Fall bis dahin noch nicht abgeschlossen ist?«, wollte ich wissen. »Was soll ich dann für ein Ende schreiben?«
Barnaski hatte bereits eine von seiner Rechtsabteilung auf Herz und Nieren geprüfte Lösung parat: »Wenn der Fall abgeschlossen ist, wird es ein authentischer Tatsachenbericht. Wenn nicht, lassen wir das Ende offen, oder Sie denken sich eines aus. Dann ist es ein Roman. Juristisch gesehen, ist das eine saubere Lösung, und für den Leser ist es sowieso egal. Und sollten die Ermittlungen tatsächlich noch zu keinem Ergebnis gekommen sein – umso besser, dann könnten wir einen zweiten Band machen. Das wäre ein Glücksfall!«
Er warf mir einen vielsagenden Blick zu. In diesem Augenblick brachte ein Hotelpage den Champagner, und Barnaski ließ es sich nicht nehmen, ihn höchstpersönlich zu öffnen. Ich unterschrieb seinen Vertrag, er ließ den Korken knallen und verspritzte dabei reichlich Champagner, füllte zwei Gläser und reichte eins davon Douglas und das andere mir.
»Trinken Sie nicht mit?«, fragte ich.
Er verzog angewidert das Gesicht und wischte sich die Hände an einem Kissen ab. »Ich mag das Zeug nicht. Champagner ist nur gut für die Show. Die Show, Goldman, macht neunzig Prozent des Interesses aus, das die Leute dem fertigen Produkt entgegenbringen!«
Mit diesen Worten verließ er den Raum, um Warner Bros. anzurufen und über die Filmrechte zu verhandeln.
Nachmittags erhielt ich auf der Rückfahrt nach Aurora einen Anruf von Roth. Er war vollkommen aus dem Häuschen.
»Wir haben das Ergebnis, Goldman!«
»Was für ein Ergebnis?«
»Die Handschrift! Sie ist nicht von Harry! Er hat diese Worte nicht aufs Manuskript geschrieben!«
Ich stieß einen Freudenschrei aus.
»Und was heißt das genau?«, fragte ich dann.
»Das lässt sich noch nicht sagen.
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