Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
Aber wenn es nicht seine Handschrift ist, dann bestätigt das, dass sich das Manuskript zum Zeitpunkt von Nolas Ermordung nicht in seinem Besitz befunden hat. Und das Manuskript ist immerhin eines der wichtigsten Beweisstücke der Anklage. Der Richter hat für Donnerstag, den 10. Juli, um elf Uhr eine erneute Anhörung angesetzt. Dass er es so eilig hat, ist bestimmt eine gute Nachricht für Harry!«
Ich war sehr aufgeregt: Bald würde Harry freikommen. Er hatte also die Wahrheit gesagt, er war unschuldig. Voller Ungeduld sah ich dem Donnerstag entgegen. Doch am Abend vor der neuerlichen Anhörung, am Mittwoch, den 9. Juli, ereignete sich eine Katastrophe. An diesem Abend saß ich gerade in Harrys Arbeitszimmer in Goose Cove und las meine Aufzeichnungen über Nola durch, als Barnaski mich gegen neunzehn Uhr auf meinem Handy anrief. Seine Stimme bebte. »Marcus, ich habe eine schreckliche Nachricht«, fiel er mit der Tür ins Haus.
»Was ist los?«
»Es wurde etwas gestohlen …«
»Gestohlen? Was?«
»Ihre Aufzeichnungen … Die Seiten, die Sie mir nach Boston mitgebracht haben.«
» Was ? Wie kann das sein?«
»Sie lagen in einer Schublade in meinem Büro. Gestern Morgen konnte ich sie nicht mehr finden … Zuerst dachte ich, Marisa hätte aufgeräumt und sie in den Safe gelegt, wie sie es manchmal tut. Aber als ich sie darauf angesprochen habe, hat sie gesagt, sie hätte nichts angerührt. Ich habe gestern den ganzen Tag danach gesucht – ohne Erfolg.«
Mein Herz raste. Ich fühlte, wie sich ein Unwetter zusammenbraute. »Und wie kommen Sie darauf, dass sie gestohlen wurden?«, fragte ich.
Lange Pause, dann erwiderte Barnaski: »Ich habe den ganzen Nachmittag über Anrufe bekommen: vom Globe , von USA Today , der New York Times … Jemand hat Kopien Ihrer Aufzeichnungen an sämtliche Zeitungen des Landes verteilt, und die sind gerade dabei, sie in Umlauf zu bringen. Marcus: Morgen wird wahrscheinlich die ganze Nation erfahren, was in Ihrem Buch steht.«
ZWEITER TEIL
Die Genesung der Schriftsteller
Das Schreiben des Buchs
14.
Jener berüchtigte 30. August 1975
»Sehen Sie, Marcus, unsere Gesellschaft ist so angelegt, dass wir uns ständig zwischen Vernunft und Leidenschaft entscheiden müssen. Die Vernunft hat noch nie jemandem genützt, und die Leidenschaft ist oft zerstörerisch. Es dürfte mir also ziemlich schwerfallen, Ihnen zu helfen.«
»Warum erzählen Sie mir das, Harry?«
»Nur so. Das Leben ist eine Mogelpackung.«
»Essen Sie Ihre Pommes frites nicht auf?«
»Nein, bedienen Sie sich, wenn Sie wollen.«
»Danke, Harry.«
»Interessiert Sie eigentlich gar nicht, was ich Ihnen erzähle?«
»Doch, sehr. Ich höre Ihnen aufmerksam zu. Nummer 14: Das Leben ist eine Mogelpackung.«
»Mein Gott, Marcus, Sie haben nichts kapiert. Manchmal habe ich den Eindruck, mich mit einem Schwachsinnigen zu unterhalten.«
Sechzehn Uhr
Es war ein prachtvoller Tag gewesen. Einer von diesen sonnigen Samstagen im Spätsommer, die Aurora in eine friedliche Stimmung tauchten. In der Stadtmitte hatte man die Menschen entspannt flanieren und vor den Schaufenstern verweilen und die letzten schönen Tage genießen sehen. Weil kaum Verkehr herrschte, hatten die Kinder in den Wohnvierteln die Straßen erobert und veranstalteten mit Fahrrädern oder Rollschuhen Wettrennen, während ihre Eltern auf der schattigen Veranda an ihrer Limonade nippten und ausgiebig Zeitung lasen.
Zum dritten Mal in weniger als einer Stunde fuhr Travis Dawn nun mit seinem Streifenwagen durch das Viertel rund um die Terrace Avenue und kam am Haus der Quinns vorbei. Der Nachmittag war vollkommen ruhig gewesen: keine besonderen Vorkommnisse, kein einziger Ruf von der Zentrale. Um die Zeit totzuschlagen, hatte er ein paar Verkehrskontrollen durchgeführt, aber er war nicht bei der Sache gewesen: Er musste die ganze Zeit an Jenny denken. Sie saß mit ihrem Vater auf der Veranda. Die beiden hatten den ganzen Nachmittag Kreuzworträtsel gelöst, während Tamara rechtzeitig zum Herbst die Sträucher gestutzt hatte. Als Travis sich ihrem Haus näherte, bremste er auf Schritttempo ab. Er hoffte, dass Jenny ihn bemerken, den Kopf drehen, ihn sehen und ihm zuwinken, ja dass sie eine freundschaftliche Geste machen würde, die ihn ermunterte, kurz anzuhalten und sie durchs offene Wagenfenster zu grüßen. Vielleicht würde sie ihm sogar ein Glas Eistee anbieten, und sie würden ein wenig plaudern. Aber Jenny drehte den Kopf nicht, sie sah ihn nicht.
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