Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
Sie lachte mit ihrem Vater und wirkte ganz zufrieden. Also fuhr er vorbei und hielt ein Stück weiter vorn außer Sichtweite. Er sah den Blumenstrauß auf dem Beifahrersitz an und griff nach dem Zettel, der daneben lag und auf den er geschrieben hatte, was er ihr sagen wollte:
Guten Tag, Jenny. Was für ein schöner Tag! Wenn du heute Abend nichts vorhast, könnten wir doch einen Spaziergang am Strand machen. Vielleicht könnten wir sogar ins Kino gehen? In Montburry laufen neue Filme. (Ihr die Blumen geben.)
Ihr einen Spaziergang und einen Kinobesuch vorschlagen. Das war doch nicht so schwer. Aber er traute sich nicht, aus dem Wagen zu steigen. Also fuhr er rasch weiter und setzte seine Streife fort. Dabei folgte er demselben Weg, der ihn zwanzig Minuten später wieder bei den Quinns vorbeiführen würde. Die Blumen schob er unter den Sitz, damit niemand sie sah. Es waren Wildrosen. Er hatte sie unweit von Montburry an einem kleinen See gepflückt, von dem Ernie Pinkas ihm erzählt hatte. Auf den ersten Blick sahen sie nicht so schön aus wie Zuchtrosen, dafür hatten sie viel kräftigere Farben. Schon oft hatte er mit Jenny an diesen See fahren wollen, er hatte sich sogar schon einen Plan ausgedacht: Er wollte ihr die Augen verbinden, sie zu den Rosensträuchern führen und das Tuch erst abnehmen, wenn sie vor den Blumen stand, damit sie wie ein Feuerwerk in tausend Rottönen vor ihr explodierten. Danach würden sie am Seeufer picknicken. Aber er hatte nie den Mut aufgebracht, ihr das vorzuschlagen. Gerade fuhr er in der Terrace Avenue am Haus der Kellergans vorbei, ohne besonders darauf zu achten. Er war in Gedanken woanders.
Trotz des schönen Wetters hatte der Reverend den ganzen Nachmittag in der Garage verbracht und an einer alten Harley-Davidson herumgebastelt, die er eines Tages flottzukriegen hoffte. Laut Polizeibericht von Aurora hatte er die Werkstatt nur verlassen, um sich aus der Küche etwas zu trinken zu holen, und Nola dabei jedes Mal im Wohnzimmer sitzen und lesen sehen.
Siebzehn Uhr dreißig
Als der Tag zu Ende ging, leerten sich im Stadtzentrum allmählich die Straßen, in den Wohnvierteln kehrten die Kinder zum Abendessen heim, und auf den Veranden blieben leere Sessel und zerlesene Zeitungen zurück.
Polizeichef Gareth Pratt, der an diesem Tag freihatte, und seine Frau Amy kamen von einem Besuch bei Freunden außerhalb der Stadt nach Hause. Etwa um dieselbe Zeit betraten die Hattaways – also Nancy, ihre beiden Brüder und ihre Eltern – ihr Haus in der Terrace Avenue, nachdem sie den Nachmittag am Grand Beach verbracht hatten. Im Polizeibericht steht, dass Mrs Hattaway, also Nancys Mutter, aufgefallen war, dass bei den Kellergans sehr laute Musik lief.
Ein paar Meilen entfernt traf Harry gerade im Sea Side Motel ein. Er mietete Zimmer 8 unter einem falschen Namen und bezahlte bar, um sich nicht ausweisen zu müssen. Unterwegs hatte er Blumen gekauft und den Wagen vollgetankt. Alles war bereit. Nur noch knapp anderthalb Stunden. Sobald Nola kam, würden sie ihr Wiedersehen feiern und dann sofort aufbrechen. Gegen einundzwanzig Uhr wären sie schon in Kanada. Sie wären zusammen, und Nola würde nie mehr unglücklich sein.
Achtzehn Uhr
Die einundsechzigjährige Deborah Cooper, die seit dem Tod ihres Mannes allein in dem abgelegenen Haus am Waldrand von Side Creek wohnte, setzte sich an den Küchentisch, um einen Apfelkuchen zuzubereiten. Nachdem sie die Äpfel geschält und geschnitten hatte, warf sie ein paar Stücke für die Waschbären aus dem Fenster und stellte sich dann hinter die Scheibe, um sie zu beobachten. In diesem Augenblick glaubte sie eine Gestalt zu sehen, die zwischen den Baumreihen entlangrannte. Bei genauerem Hinsehen erkannte sie klar und deutlich ein junges Mädchen in einem roten Kleid, das von einem Mann verfolgt wurde. Gleich darauf verschwanden beide im Dickicht. Sie eilte zum Telefon im Wohnzimmer, um den Polizeinotruf zu wählen. Aus dem Polizeibericht geht hervor, dass der Anruf um achtzehn Uhr einundzwanzig in der Zentrale einging und siebenundzwanzig Sekunden dauerte. Die Mitschrift lautet folgendermaßen:
»Polizeizentrale! Sie möchten einen Notfall melden?«
»Hallo? Mein Name ist Deborah Cooper. Ich wohne in der Side Creek Lane. Ich glaube, ich habe gerade gesehen, wie ein Mädchen im Wald von einem Mann verfolgt wurde.«
»Was genau ist passiert?«
»Ich weiß es nicht! Ich habe am Fenster gestanden und in den Wald geschaut, und da habe ich
Weitere Kostenlose Bücher