Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Durchsuchung des Erdgeschosses stürzte Chief Pratt zu seinem Wagen, um die Zentrale zu informieren und Verstärkung anzufordern. Die Mitschrift seines Gesprächs mit dem Beamten in der Zentrale lautet folgendermaßen:
    »Hier Chief Pratt, Polizei Aurora. Erbitte dringend Verstärkung in die Side Creek Lane an der Kreuzung mit Route 1. Wir haben hier eine von einer Kugel getötete Frau und offenbar ein in der Gegend herumirrendes Mädchen.«
    »Chief Pratt, vor sieben Minuten haben wir einen Notruf von einer gewissen Mrs Deborah Cooper aus der Side Creek Lane erhalten. Sie hat uns gemeldet, dass ein Mädchen bei ihr Zuflucht gefunden hat. Hängen die beiden Fälle zusammen?«
    »Was sagen Sie da? Die Tote ist Deborah Cooper, und in ihrem Haus ist sonst niemand. Schicken Sie die Kavallerie los! Das hier scheint mir eine Riesenscheiße zu sein!«
    »Ein paar Einheiten sind bereits unterwegs, Chief. Ich schicke Ihnen noch mehr.«
    Noch vor Gesprächsende hörte Pratt eine Sirene: Die Verstärkung war schon im Anmarsch. Ihm blieb kaum die Zeit, Travis zu informieren und aufzufordern, das Haus nochmals zu durchsuchen, als es plötzlich in seinem Funkgerät knisterte: Auf der Route 1 war ein paar Hundert Meter weiter zwischen einem Wagen des Sheriffs und einem verdächtigen Fahrzeug, das am Waldrand gesichtet worden war, eine Verfolgungsjagd im Gange. Hilfssheriff Paul Summond war auf dem Weg zum Einsatzort einem schwarzen Chevrolet Monte Carlo mit unleserlichem Kennzeichen begegnet, der aus dem Unterholz aufgetaucht und entgegen seinen Anordnungen mit Vollgas Richtung Norden geflohen war.
    Chief Pratt sprang in seinen Wagen und raste los, um Summond tatkräftig zu unterstützen. Er fuhr einen parallel zur Route 1 verlaufenden Waldweg entlang, um dem Flüchtenden weiter vorn den Weg abzuschneiden. Drei Meilen hinter der Side Creek Lane gelangte er auf die Route 1 und verfehlte den schwarzen Chevrolet nur um Haaresbreite.
    Die Autos jagten mit aberwitziger Geschwindigkeit über den Asphalt. Der Chevrolet floh weiter in Richtung Norden. Per Funk forderte Chief Pratt einen Hubschrauber an und befahl allen verfügbaren Einheiten, Straßensperren zu errichten. Kurz darauf bog der Chevrolet mit einem spektakulären Manöver in eine Nebenstrecke ein und wenig später noch einmal. Er fuhr mörderisch schnell. Die Polizeiautos konnten kaum mithalten. Pratt brüllte ins Funkgerät, dass sie drauf und dran waren, ihn zu verlieren.
    Auf schmalen Straßen ging die Verfolgung weiter. Der Fahrer schien sich bestens auszukennen und schaffte es, seinen Vorsprung gegenüber der Polizei immer weiter auszubauen. An einer Kreuzung wäre der Chevrolet beinahe mit einem entgegenkommenden Fahrzeug zusammengestoßen. Dieses blieb mitten auf der Fahrbahn stehen. Pratt konnte das Hindernis gerade noch umfahren, indem er auf den Grasstreifen auswich, aber für Summond, der direkt hinter ihm fuhr, war die Kollision unvermeidlich. Zum Glück verlief sie glimpflich. Pratt, der jetzt allein hinter dem Chevrolet her war, lotste die Verstärkung per Funk so gut wie möglich. Für einen Moment verlor er den Fluchtwagen aus dem Blick, doch gleich darauf entdeckte er ihn wieder auf der Straße nach Montburry, wo dieser ihn jedoch endgültig abhängte. Als Pratt aus der entgegengesetzten Richtung Streifenwagen auf sich zukommen sah, begriff er, dass ihnen das verdächtige Fahrzeug durch die Lappen gegangen war. Sofort ordnete er die Sperrung sämtlicher Straßen, die Durchsuchung der gesamten Gegend und die Einschaltung der State Police an. In der Side Creek Lane war Travis Dawn unterdessen zu dem Ergebnis gelangt, dass es vom Mädchen im roten Kleid nicht die geringste Spur gab, weder im Haus noch in der unmittelbaren Umgebung.

    Zwanzig Uhr
    Panisch wählte Reverend David Kellergan die Nummer des Polizeinotrufs, um zu melden, dass seine fünfzehnjährige Tochter Nola verschwunden war. Ein als Verstärkung angeforderter Hilfssheriff des Bezirks kam als Erster in die Terrace Avenue 245, kurz darauf gefolgt von Travis Dawn. Um zwanzig Uhr fünfzehn traf auch Chief Pratt vor Ort ein. Das Telefongespräch zwischen Deborah Cooper und dem Beamten in der Zentrale ließ keinen Zweifel zu: Es war Nola Kellergan, die in der Side Creek Lane gesehen worden war.
    Um zwanzig Uhr fünfundzwanzig löste Chief Pratt abermals Großalarm aus und bestätigte das Verschwinden der fünfzehnjährigen Nola Kellergan, die zuletzt eine Stunde zuvor in der Side Creek Lane gesehen