Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
nicht hier? Im Radio hieß es, dass sie verschwunden war, also war sie wie geplant von zu Hause weggelaufen. Aber warum ohne ihn? War etwas dazwischengekommen? War sie womöglich nach Goose Cove geflohen? Ihre Flucht wandelte sich zur Katastrophe.
Noch erfasste er den Ernst der Lage nicht. Er warf die Blumen weg und stürmte, ohne sich die Zeit zu nehmen, sich die Haare zu kämmen oder die Krawatte neu zu binden, aus dem Zimmer. Er warf seine Koffer in den Wagen und raste in Richtung Goose Cove. Nach knapp zwei Meilen stieß er auf eine imposante Straßensperre der Polizei. Chief Gareth Pratt war soeben eingetroffen, um diese Maßnahme mit einer Pumpgun in der Hand zu überwachen. Die Stimmung unter den wartenden Autofahrern war angespannt. Als Chief Pratt Harrys Wagen in der Fahrzeugschlange erblickte, ging er zu ihm.
»Ich habe das mit Nola gerade im Radio gehört, Chief«, sagte Harry durch das heruntergelassene Fenster. »Was ist los?«
»Eine schlimme Sache ist das!«, sagte der Chief.
»Aber was ist denn passiert?«
»Das weiß niemand. Sie ist von zu Hause verschwunden. Gestern Abend wurde sie in der Nähe der Side Creek Lane gesehen, aber seitdem gibt es nicht die geringste Spur von ihr. Die ganze Gegend ist abgeriegelt, der Wald wird durchkämmt.«
Harry blieb das Herz stehen. Die Side Creek Lane lag in Richtung des Motels! Hatte sich Nola auf dem Weg zu ihrem Treffpunkt womöglich verletzt? Hatte sie, nachdem sie in der Side Creek Lane gesehen worden war, vielleicht Angst bekommen, die Polizei könnte sie beide im Hotel schnappen? Wo hatte sie sich versteckt?
Dem Chief fielen Harrys ungepflegtes Äußeres und das Gepäck auf dem Rücksitz auf. »Kommen Sie von einer Reise zurück?« forschte er.
Harry hielt es für besser, bei der mit Nola abgesprochenen Version zu bleiben. »Ich hatte wegen meines Buchs in Boston zu tun.«
»In Boston?«, wiederholte Pratt erstaunt. »Aber Sie kommen von Norden …«
»Ich weiß«, stammelte Harry. »Ich war noch kurz in Concord.«
Der Chief musterte ihn argwöhnisch. Harry fuhr einen schwarzen Chevrolet Monte Carlo. Pratt befahl ihm, den Motor abzustellen.
»Gibt es ein Problem?«, fragte Harry.
»Wir suchen nach einem Wagen wie Ihrem, der mit der Sache zu tun haben könnte.«
»Einen Monte Carlo?«
»Genau.«
Zwei Polizeibeamte durchsuchten den Wagen, fanden aber nichts Verdächtiges, und Chief Pratt ließ Harry weiterfahren. Im Weggehen sagte er zu ihm: »Ich möchte Sie bitten, die Gegend nicht zu verlassen. Reine Vorsichtsmaßnahme, natürlich.« Im Autoradio wurde immer wieder Nolas Beschreibung durchgegeben: Junges Mädchen, weiß, 1,58 Meter groß, fünfzig Kilo schwer, langes blondes Haar, grüne Augen, trägt ein rotes Kleid und eine Goldkette mit dem eingravierten Namen NOLA.
In Goose Cove war sie nicht. Weder am Strand noch auf der Terrasse, noch im Haus. Nirgends. Er rief nach ihr, und es war ihm egal, ob jemand ihn hörte. Er suchte wie ein Verrückter den Strand ab. Er hielt nach einem Brief, nach einer kurzen Mitteilung Ausschau, aber da war nichts. Allmählich bekam er die Panik. Warum war sie von zu Hause weggelaufen, wenn nicht, um sich mit ihm zu treffen?
Er wusste nicht mehr weiter, und so fuhr er zum Clark’s. Dort hörte er, dass Deborah Cooper Nola blutüberströmt gesehen hatte und wenig später ermordet aufgefunden worden war. Er konnte es nicht fassen. Was war bloß passiert? Warum hatte er zugelassen, dass sie sich auf eigene Faust zu ihm durchschlug? Sie hätten sich in Aurora treffen sollen. Er ging quer durch die Stadt zum Haus der Kellergans, mischte sich unter die Schaulustigen und beteiligte sich an ihren Gesprächen, um mehr zu erfahren. Am späten Vormittag, als er wieder in Goose Cove war, setzte er sich mit einem Fernglas und etwas Brot für die Möwen auf die Terrasse. Er wartete. Sie hatte sich verlaufen, sie würde zurückkommen. Sie würde bestimmt zurückkommen. Er suchte mit dem Fernglas den Strand ab. Er wartete weiter. Bis die Nacht hereinbrach.
13.
Der Sturm
»Das Gefährliche an Büchern ist, Marcus, dass Sie manchmal die Kontrolle über sie verlieren können. Sie zu veröffentlichen bedeutet, dass das, was Sie einsam vor sich hingeschrieben haben, plötzlich Ihren Händen entgleitet und in den öffentlichen Raum entschwindet. Dieser Augenblick birgt eine große Gefahr. Sie müssen die Sache jederzeit fest im Griff haben. Die Kontrolle über sein eigenes Buch zu verlieren ist eine
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