Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
pausenlos Polizeistreifen, um die Bevölkerung zu beruhigen, während Beamte der State Police in der Terrace Avenue von Tür zu Tür gingen und die Zeugenaussagen der Nachbarn aufnahmen.
Dreiundzwanzig Uhr
Im Besprechungszimmer der Polizei von Aurora zogen Chief Pratt und Captain Rodik Bilanz. Ersten Ermittlungen zufolge gab es in Nolas Zimmer keinerlei Spuren von einem Einbruch oder Handgreiflichkeiten. Nur das Fenster hatte weit offen gestanden.
»Hat sie was zum Anziehen mitgenommen?«, fragte Rodik.
»Nein, weder Kleidung noch Geld. Sie hat ihr Sparschwein nicht angerührt. Darin befinden sich hundertzwanzig Dollar.«
»Das riecht nach Entführung.«
»Aber von den Nachbarn ist niemandem irgendetwas aufgefallen.«
»Das wundert mich nicht. Bestimmt hat jemand die Kleine überredet, mit ihm zu kommen.«
»Durchs Fenster?«
»Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Es ist August, alle lassen ihre Fenster auf. Vielleicht wollte sie auch nur eine Runde spazieren gehen und hatte unterwegs eine fatale Begegnung.«
»Ein Zeuge, ein gewisser Gregory Stark, hat ausgesagt, dass er bei den Kellergans Schreie gehört hat, als er mit seinem Hund spazieren ging. Das war gegen siebzehn Uhr. Aber er ist sich nicht sicher.«
»Was soll das heißen: Er ist sich nicht sicher ?«, fragte Rodik.
»Er sagt, bei den Kellergans lief Musik, und zwar sehr laute Musik.«
Rodik fluchte: »Wir haben nichts: keine Hinweise, keine Fährte! Es ist wie ein Spuk. Alles, was wir haben, ist dieses blutende, panisch um Hilfe rufende Mädchen, das kurz gesehen wurde.«
»Was sollten wir Ihrer Meinung nach jetzt tun?«, fragte Pratt.
»Glauben Sie mir, für heute Abend haben Sie getan, was Sie konnten. Jetzt müssen Sie sich auf das weitere Vorgehen konzentrieren. Schicken Sie Ihre Leute nach Hause, um sich auszuruhen, aber erhalten Sie die Straßensperren aufrecht. Stellen Sie einen Plan für die Durchsuchung des Waldes auf. Sie müssen die Suche morgen bei Tagesanbruch fortsetzen. Sie sind der Einzige, der die Suchaktion leiten kann, weil Sie sich hier auskennen. Geben Sie die Suchmeldung an alle Polizeidienststellen weiter, und versuchen Sie, möglichst genaue Angaben über Nola zu machen: ein Schmuckstück, das sie getragen hat, oder ein besonderes körperliches Merkmal, das Zeugen dabei helfen könnte, sie zu identifizieren. Ich werde diese Informationen an das FBI , die Polizei der Nachbarstaaten und die Grenzpolizei weitergeben. Außerdem werde ich für morgen einen Hubschrauber und eine Hundestaffel zur Verstärkung anfordern. Wenn Sie können, schlafen Sie auch ein bisschen. Und beten Sie! Ich liebe meinen Beruf, Chief, aber eine Kindesentführung ist mehr, als ich ertragen kann.«
Die Stadt kam durch das Hin und Her der Streifenwagen und der Schaulustigen in der Terrace Avenue die ganze Nacht nicht zur Ruhe. Ein paar Einwohner wollten den Wald auf eigene Faust durchkämmen. Andere meldeten sich auf dem Polizeirevier und boten ihre Hilfe bei der Suchaktion an. Die Bevölkerung war überaus beunruhigt.
Sonntag, 31. August 1975
Ein eiskalter Regen ging auf die Landschaft nieder, die in dichten, vom Ozean herüberziehenden Nebel gehüllt war. Um fünf Uhr früh standen Chief Pratt und Captain Rodik in der Nähe von Deborah Coopers Haus unter einer riesigen, eilig aufgespannten Regenplane und wiesen die ersten Teams aus Polizisten und Freiwilligen ein. Sie hatten den Wald auf einer Karte in Sektoren aufgeteilt und jedem Suchtrupp einen Sektor zugeordnet. Im Lauf des Vormittags wurden Hundeführer und Ranger als Verstärkung erwartet, um die Suche auszuweiten und eine Ablösung der Teams zu ermöglichen. Der Hubschrauber war wegen der schlechten Sicht vorerst abbestellt worden.
Um sieben Uhr fuhr Harry in Zimmer 8 des Sea Side Motels aus dem Schlaf auf. Er war in seinen Anziehsachen eingeschlafen. Das Radio lief immer noch, es brachte gerade Nachrichten: Großalarm in der Gegend von Aurora nach dem Verschwinden der fünfzehnjährigen Nola Kellergan gestern Abend gegen neunzehn Uhr. Die Polizei bittet die Bevölkerung um sachdienliche Hinweise (…) Zum Zeitpunkt ihres Verschwindens trug Nola Kellergan ein rotes Kleid (…)
Nola! Sie waren eingeschlafen und hatten ganz vergessen, dass sie durchbrennen wollten. Er sprang aus dem Bett und rief nach ihr. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er, sie wäre bei ihm im Zimmer. Dann fiel ihm wieder ein, dass sie nicht gekommen war. Warum hatte sie ihn versetzt? Weshalb war sie
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