Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
worden war. Er leitete eine Fahndung nach einem weißen, circa 1,58 Meter großen und fünfzig Kilo schweren Mädchen mit langem blonden Haar und grünen Augen ein, das ein rotes Kleid sowie eine Goldkette mit dem eingravierten Namen NOLA trug.
Polizeieinheiten aus dem gesamten Bezirk wurden zusammengezogen. In der Hoffnung, Nola Kellergan noch vor Einbruch der Dunkelheit zu finden, wurde eine erste Suchaktion im Wald und am Strand gestartet, während gleichzeitig Streifenwagen die Gegend durchkämmten und nach dem schwarzen Chevrolet Ausschau hielten, von dem, zumindest vorläufig, jede Spur fehlte.
Einundzwanzig Uhr
Um einundzwanzig Uhr trafen in der Side Creek Lane Einheiten der State Police ein, die dem Befehl von Captain Neil Rodik unterstanden. Gleichzeitig wurden Teams der Spurensicherung zu Deborah Coopers Haus sowie zu der Stelle im Wald entsandt, wo die Blutspuren gefunden worden waren. Eine Batterie leuchtstarker Halogenscheinwerfer wurde aufgestellt, um den Fundort auszuleuchten. Man entdeckte büschelweise ausgerissene blonde Haare, Zahnsplitter sowie rote Stofffetzen.
Rodik und Pratt, die das Geschehen aus einiger Entfernung beobachteten, zogen ein erstes Resümee.
»Sieht so aus, als hätte es ein regelrechtes Gemetzel gegeben«, sagte Pratt.
Rodik nickte und fragte dann: »Und Sie glauben, dass die Kleine immer noch im Wald ist?«
»Entweder wurde sie in diesem Wagen weggeschafft, oder sie ist noch im Wald. Der Strand wurde bereits gründlich abgesucht: Fehlanzeige. Hoffentlich finden wir die Kleine so schnell wie möglich lebend wieder«, sagte Pratt mit einem Seufzer.
»Ich weiß, Chief. Aber bei dem vielen Blut, das sie verloren hat, dürfte sie, sofern sie noch lebt und irgendwo in diesem Wald ist, in einem üblen Zustand sein. Man fragt sich, woher sie die Kraft genommen hat, sich bis zum Haus zu schleppen. Bestimmt mit letzter Verzweiflung.«
»Bestimmt.«
»Vom Fluchtfahrzeug nichts Neues?«, fragte Rodik noch.
»Nichts. Das ist mir ein Rätsel. Dabei sind überall Straßensperren, in allen Richtungen.«
Als ein paar Beamte Blutspuren entdeckten, die von Deborah Coopers Haus zu der Stelle führten, wo der schwarze Chevrolet gesichtet worden war, verzog Rodik resigniert das Gesicht.
»Ich will ja nicht unken«, sagte er, »aber entweder hat sie sich zum Sterben irgendwo hingeschleppt, oder man hat sie in den Kofferraum von diesem Wagen verfrachtet.«
Um einundzwanzig Uhr fünfundvierzig, als vom Tag nur noch ein mattes Leuchten übrig war, das über der Linie des Horizonts schwebte, forderte Rodik Pratt auf, die Suche wegen Dunkelheit abzubrechen.
»Die Suche abbrechen?«, protestierte Pratt. »Kommt nicht infrage! Stellen Sie sich vor, sie ist irgendwo da draußen und wartet auf Hilfe. Wir werden die Kleine doch nicht allein im Wald lassen! Notfalls werden meine Jungs die ganze Nacht lang suchen, und wenn sie hier ist, werden sie sie finden.«
Rodik war ein alter Hase. Er wusste, dass die örtliche Polizei manchmal etwas naiv war, und ein Teil seiner Arbeit bestand darin, ihren Vorgesetzten auf den Boden der Tatsachen zurückzubringen.
»Chief Pratt, Sie müssen die Aktion für heute abbrechen. Der Wald ist riesig, und man sieht nichts mehr. Eine nächtliche Suche bringt nichts. Im besten Fall vergeuden Sie nur Ihre Ressourcen und müssen morgen von vorn anfangen. Im schlimmsten Fall verirren sich ein paar von Ihren Männern in dem Riesenwald, und dann müssen Sie die auch noch suchen. Sie haben schon genügend Probleme am Hals.«
»Aber wir müssen sie finden!«
»Chief, vertrauen Sie auf meine Erfahrung. Es nützt nichts, die Nacht über weiterzumachen. Wenn die Kleine noch lebt, verletzt oder nicht, finden wir sie morgen.«
Unterdessen waren die Einwohner von Aurora in Aufruhr. Zu Hunderten drängten sich die Schaulustigen vor dem Haus der Kellergans und ließen sich nur mit Mühe durch die Polizeiabsperrungen zurückhalten. Alle wollten wissen, was passiert war. Als Chief Pratt vor Ort erschien, sah er sich genötigt, die Gerüchte zu bestätigen: Ja, Deborah Cooper war tot und Nola verschwunden. Aus der Menge waren entsetzte Aufschreie zu hören. Die Mütter brachten ihre Kinder nach Hause und verbarrikadierten sich, die Väter holten ihre alten Gewehre hervor und bildeten Bürgerwehren, um die Wohnviertel zu bewachen. Chief Pratts Aufgabe wurde komplizierter: Er durfte nicht zulassen, dass die Stadt von der Panik regiert wurde. In den Straßen patrouillierten
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