Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
sei. Ich glaubte schon, sie würde mir ihre Kaffeekanne ins Gesicht schleudern.
»Du bist also nur hergekommen«, tobte sie, »um auf unsere Kosten Kohle zu machen und Schweinereien über uns zu verbreiten?«
In ihren Augen standen Tränen. Ich versuchte, die Sache abzuwiegeln. »Jenny, du weißt, dass das nicht wahr ist. Diese Auszüge hätten so nie gedruckt werden dürfen.«
»Hast du diese schrecklichen Dinge wirklich geschrieben?«
»Was da steht, ist ungeheuerlich, aber es ist aus dem Zusammenhang gerissen …«
»Aber du hast es geschrieben, oder nicht?«
»Ja, aber …«
»Da gibt es kein aber , Marcus!«
»Ich schwöre, dass ich niemandem damit schaden wollte.«
»Niemandem schaden? Soll ich aus deinem Meisterwerk zitieren?« Sie schlug ein Notizbuch auf. »Hör dir an, was hier steht: Jenny Quinn, die Kellnerin aus dem Clark’s, war vom ersten Tag an in Harry Quebert verliebt … So siehst du mich also? Als Kellnerin, als die Dienstmagd, die sich vor Sehnsucht nach Harry verzehrt?«
»Du weißt, dass das nicht stimmt …«
»Aber es steht da, verdammt noch mal! Es steht in sämtlichen Zeitungen dieses beschissenen Landes! Alle werden es lesen: meine Freunde, meine Familie, mein Mann …«
Jenny schrie. Die anderen Gäste beobachteten die Szene schweigend. Um des lieben Friedens willen zog ich es vor, zu verschwinden und in die Bibliothek zu gehen, weil ich hoffte, in Erne Pinkas einen Verbündeten zu finden, der für die Katastrophe der missbrauchten Worte Verständnis hätte. Aber auch er legte nicht gerade Wert auf meine Gesellschaft.
»Sieh an, der große Goldman!«, spottete er bei meinem Anblick. »Suchst du nach weiteren Horrorgeschichten über unsere Stadt?«
»Ich bin entsetzt darüber, dass mein Text an die Öffentlichkeit gelangt ist, Erne.«
»Entsetzt? Spar dir das Theater! Dein Buch ist in aller Munde. Zeitungen, Internet, Fernsehen – du bist in aller Munde! Du müsstest sehr zufrieden sein. Jedenfalls hoffe ich, dass du alle Informationen, die ich dir gegeben habe, richtig ausschlachten konntest. Marcus Goldman, der allmächtige Gott von Aurora, Marcus, der hier auftaucht und zu mir sagt: Ich muss dieses wissen, ich muss jenes wissen. Kein einziger Dank, als wäre das ganz normal, als müsste ich dem großen Schriftsteller Marcus Goldman die Stiefel lecken. Weißt du, was ich dieses Wochenende gemacht habe? Ich bin jetzt fünfundsiebzig und arbeite jeden zweiten Sonntag in Montburry im Supermarkt, damit ich bis zum Monatsende über die Runden komme. Ich sammle die Einkaufswagen auf dem Parkplatz ein und schiebe sie zum Eingang zurück. Mir ist klar, dass damit kein Ruhm zu ernten ist und dass ich nicht so wichtig wie du bin, aber ein ganz klein wenig Achtung habe ich trotzdem verdient, oder nicht?«
»Tut mir leid.«
»Es tut dir leid? Gar nichts tut dir leid! Du wusstest es nicht mal, weil es dich nicht interessiert hast, Marc! Du hast dich nie für irgendjemanden in Aurora interessiert. Für dich zählt nur der Ruhm. Aber der Ruhm hat seinen Preis!«
»Es tut mir aufrichtig leid, Erne. Lass uns zusammen mittagessen gehen, wenn du willst.«
»Ich will nicht essen gehen! Ich will, dass du mich in Ruhe lässt! Ich muss Bücher einsortieren. Bücher sind wichtig. Du nicht.«
Entsetzt fuhr ich zurück nach Goose Cove, um mich dort zu verkriechen. Marcus Goldman, der Adoptivsohn von Aurora, hatte ohne es zu wollen seine Familie verraten. Ich rief Douglas an und bat ihn, ein Dementi zu veröffentlichen.
»Ein Dementi? Die Zeitungen haben doch nur abgedruckt, was du geschrieben hast. In zwei Monaten wäre sowieso alles veröffentlicht worden.«
»Die Zeitungen haben alles entstellt! Nichts von dem, was sie gedruckt haben, wird so in meinem Buch stehen!«
»Hör mal, Marc, mach nicht so ein Bohei. Du musst dich auf deinen Text konzentrieren, das ist das einzige, was jetzt zählt. Dir bleibt nicht mehr viel Zeit. Vielleicht erinnerst du dich, dass wir vor drei Tagen in Boston waren, wo du einen Vertrag über eine Million Dollar unterschrieben und dich verpflichtet hast, in sieben Wochen ein Buch zu schreiben?«
»Ich weiß, ich weiß! Aber das heißt nicht, dass ich es zusammenschmiere!«
»Ein Buch, das in ein paar Wochen geschrieben wird, ist ein Buch, das in ein paar Wochen geschrieben wird.«
»Genauso lang hat Harry gebraucht, um Der Ursprung des Übels zu schreiben.«
»Harry ist Harry, wenn du weißt, was ich meine.«
»Nein, weiß ich nicht.«
»Er ist ein
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