Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
zwar von Juli bis Oktober. Im Winter ist er erfroren, nachdem er aus lauter Verzweiflung alle seine Hunde aufgegessen hatte. Niemand ist frei, Goldman, nicht einmal die Jäger in Alaska. Schon gar nicht in Amerika, wo die braven Amerikaner vom System abhängen, die Inuit von der Stütze der Regierung und vom Alkohol und wo die Indianer zwar frei, dafür aber in Menschenzoos, sogenannten Reservaten, geparkt und dazu verdammt sind, vor einer Horde Touristen immerzu ihren jämmerlichen Regentanz aufzuführen. Niemand ist frei, mein Junge. Wir sind die Gefangenen der anderen und unser selbst.«
Während Barnaski redete, hörte ich hinter mir plötzlich Sirenengeheul: Eine Zivilstreife folgte mir. Rasch legte ich auf und hielt auf dem Seitenstreifen, weil ich glaubte, wegen Benutzung eines Mobiltelefons am Steuer angehalten zu werden. Aber es war Sergeant Gahalowood. Er stieg aus dem Wagen, trat an mein Fenster und fragte: »Sagen Sie bloß, Sie gehen zurück nach New York, Schriftsteller!«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Sagen wir, weil Sie in der Richtung unterwegs waren?«
»Ich bin einfach nur durch die Gegend gefahren.«
»Hm. Purer Überlebensinstinkt?«
»Sie ahnen nicht, wie recht Sie haben. Wie haben Sie mich gefunden?«
»Falls es Ihnen noch nicht aufgefallen ist: Auf der Motorhaube Ihres Wagens steht mit roter Farbe Ihr Name. Das ist nicht der richtige Zeitpunkt, um nach Hause zu fahren, Schriftsteller.«
»Harrys Haus ist abgebrannt.«
»Ich weiß. Darum bin ich hier. Sie können jetzt nicht nach New York zurück.«
»Warum?«
»Weil Sie Mumm haben. So ein zäher Bursche wie Sie ist mir in meiner Laufbahn nicht oft untergekommen.«
»Man hat mein Buch geplündert.«
»Sie haben das Buch doch noch gar nicht geschrieben! Ihr Schicksal liegt in Ihren Händen! Ihnen stehen immer noch alle Möglichkeiten offen! Sie sind doch ein kreativer Mensch, also machen Sie sich an die Arbeit und schreiben Sie ein Meisterwerk! Sie sind ein Kämpfer, Schriftsteller. Sie sind ein Kämpfer und müssen ein Buch schreiben. Sie haben etwas zu sagen! Und wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf: Ihretwegen stecke auch ich bis zum Hals in der Scheiße. Der Staatsanwalt sitzt auf der Anklagebank und ich mit ihm. Schließlich war ich es, der ihn veranlasst hat, Harry schleunigst zu verhaften. Ich hätte gedacht, eine überraschende Festnahme dreiunddreißig Jahre nach der Tat würde ihn aus der Fassung bringen. Aber ich habe mich wie ein blutiger Anfänger getäuscht. Und dann sind Sie hier aufgekreuzt mit Ihren Lackschuhen, die so viel kosten, wie ich in einem ganzen Monat verdiene! Ich werde Ihnen hier am Straßenrand bestimmt keine Liebeserklärung machen, aber … Fahren Sie nicht zurück. Wir müssen diesen Fall abschließen.«
»Ich weiß nicht, wo ich schlafen soll. Das Haus ist abgebrannt …«
»Sie haben gerade eine Million Dollar kassiert, das weiß ich aus der Zeitung. Mieten Sie sich eine Suite in einem Hotel in Concord. Ich lasse mein Mittagessen auf Ihre Rechnung setzen. Ich sterbe nämlich vor Hunger. Auf geht’s, Schriftsteller. Wir haben alle Hände voll zu tun.«
Die ganze nächste Woche ließ ich mich nicht in Aurora blicken. Ich hatte im Regent’s Hotel im Zentrum von Concord eine Suite bezogen, in der ich mich gleichzeitig mit den Ermittlungen und mit meinem Buch befasste. Was mit Harry war, erfuhr ich über Roth, der mich wissen ließ, dass Harry sich im Sea Side Motel in Zimmer 8 einquartiert hatte. Roth sagte, Harry wolle mich nicht mehr sehen, weil ich Nolas Namen beschmutzt hätte. Er fragte: »Warum mussten Sie eigentlich sämtlichen Zeitungen erzählen, dass Nola eine kleine Schlampe war und sich nicht wohl in ihrer Haut fühlte?«
Ich unternahm einen Anlauf, mich zu verteidigen: »Ich habe gar nichts erzählt! Ich habe ein paar Dutzend Seiten geschrieben und sie dieser Pestbeule Barnaski gegeben, weil er sichergehen wollte, dass ich vorankomme. Er hat die Seiten der Presse zugespielt und es als Diebstahl hingestellt.«
»Wenn Sie es sagen …«
»Verdammt noch mal, das ist die Wahrheit!«
»Wie auch immer: Hut ab! Ich hätte es nicht besser machen können.«
»Wie meinen Sie das?«
»Das Opfer zum Täter machen – es gibt nichts Besseres, um eine Anklage zu demontieren.«
»Harry wurde aufgrund des grafologischen Gutachtens freigelassen, das wissen Sie doch besser als ich.«
»Pah! Wie gesagt, Marcus: Auch Richter sind nur Menschen. Das Erste, was sie morgens beim Kaffeetrinken
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