Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
nicht, Roth!«, rief ich.
»Warum nicht?«
»Weil sie das nicht war. Außerdem hat er sie geliebt! Er hat sie geliebt!«
Aber Roth hatte schon aufgelegt. Wenig später sah ich ihn in meinem Fernseher mit breitem Grinsen und triumphierender Miene die Stufen zum Gerichtsgebäude emporsteigen. Einige Journalisten streckten ihm das Mikrofon entgegen und wollten wissen, ob es wahr sei, was die Presse schrieb: Hatte Nola Kellergan mit allen Männern der Stadt etwas gehabt? Würde der Fall neu aufgerollt werden? Aufgeräumt bejahte er alle Fragen, die man ihm stellte.
Die Anhörung führte zu Harrys Freilassung. Sie dauerte nicht einmal zwanzig Minuten, in denen der ganze Fall im Zuge der richterlichen Aufzählungen wie ein Kartenhaus in sich zusammenfiel. Das Hauptbelastungsmaterial – das Manuskript – hatte jegliche Beweiskraft eingebüßt, seit der Nachweis erbracht war, dass die Aufschrift Adieu, allerliebste Nola nicht von Harrys Hand stammte. Die anderen Anhaltspunkte wurden wie Strohhalme vom Tisch gefegt. Tamara Quinns Anschuldigungen konnten durch keinerlei Sachbeweise gestützt werden, der schwarze Chevrolet Monte Carlo war schon damals nicht als Beweismittel betrachtet worden. Das gesamte Ermittlungsverfahren stellte sich als Riesenschlamperei dar, und der Richter beschloss auf der Grundlage neuer, ihm zur Kenntnis gebrachter Indizien, Harry gegen eine Kaution von einer halben Million Dollar freizulassen. Die Chancen standen gut, dass die Anklage vollständig fallen gelassen würde.
Diese spektakuläre Wende löste bei den Journalisten Hysterie aus. Man fragte sich, ob der Staatsanwalt nicht vielleicht einen gewaltigen PR-Coup hatte landen wollen, als er Harry verhaften und der Öffentlichkeit zum Fraß vorwerfen ließ. Kurz darauf sah man die Parteien nacheinander das Gerichtsgebäude verlassen: Zuerst kam Roth, der jubilierte und ankündigte, dass Harry schon am nächsten Tag, sobald sie das Geld für die Kaution zusammenhätten, ein freier Mann sein würde; dann folgte der Staatsanwalt, der vergeblich die Schlüssigkeit seines Ermittlungsverfahrens darzulegen versuchte.
Als ich vom großen Gerichtsspektakel auf der kleinen Mattscheibe genug hatte, ging ich joggen. Ich hatte das Bedürfnis, weit zu laufen und meinen Körper zu fühlen. Ich wollte spüren, dass ich lebendig war. Ich lief bis zu dem kleinen, von Kindern und Familien heimgesuchten See bei Montburry. Auf dem Rückweg überholte mich kurz vor Goose Cove ein Feuerwehrauto, unmittelbar gefolgt von einem zweiten sowie von einem Polizeiauto. Da sah ich auch schon den dichten, beißenden Qualm über den Kiefern aufsteigen und begriff sofort: Das Haus brannte. Der Brandstifter hatte erneut zugeschlagen!
Ich rannte, wie ich noch nie gerannt war, um das Schriftstellerhaus, das ich so liebte, zu retten. Die Feuerwehr war bereits im Einsatz, aber die riesigen Flammen verschlangen gerade die Fassade. Alles brannte lichterloh. In sicherem Abstand inspizierte ein Polizist meinen am Rand der Auffahrt geparkten Wagen, auf dessen Karosserie jemand mit roter Farbe geschrieben hatte: Brenne, Goldman, brenne.
Um zehn Uhr vormittags am nächsten Tag schwelte das Feuer immer noch. Das Haus war größtenteils zerstört worden. Experten der State Police sahen sich in den Ruinen um, während ein Team der Feuerwehr darüber wachte, dass der Brandherd nicht wieder aufloderte. Der Wucht der Flammen nach zu urteilen, hatte jemand Benzin oder einen vergleichbaren Brandbeschleuniger unter den Portalvorbau geschüttet. Von dort aus hatte sich das Feuer in Windeseile ausgebreitet. Terrasse und Wohnzimmer waren verwüstet, ebenso die Küche. Der erste Stock war zwar von den Flammen einigermaßen verschont geblieben, aber der Qualm und vor allem das von der Feuerwehr eingesetzte Wasser hatten irreversible Schäden angerichtet.
Noch immer in meinen Sportsachen, hockte ich starr vor Entsetzem im Gras und stierte das ausgebrannte Haus an. Ich hatte die ganze Nacht dort gesessen. Zu meinen Füßen stand eine unbeschädigte Tasche, die die Feuerwehrmänner aus meinem Zimmer geborgen hatten. Darin befanden sich ein paar Anziehsachen und mein Computer.
Ich hörte ein Auto kommen, und durch die Schaulustigen hinter mir ging ein Raunen. Es war Harry. Er war soeben freigelassen worden. Ich hatte Roth von der Tragödie in Kenntnis gesetzt und wusste, dass er Harry benachrichtigt hatte. Wortlos machte er ein paar Schritte in meine Richtung, dann setzte er sich ins Gras und sagte
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