Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
schrie: »Gentlemen, die Jagd auf Hinterwäldler ist eröffnet! Hundert Dollar für den, der ihn fängt!«
Luther rannte los, so schnell er konnte. Er hoffte, dass ein anderes Auto vorbeifahren würde, aber niemand kam, der ihm hätte helfen können. Einer seiner Verfolger holte ihn ein, stieß ihn zu Boden und rief den anderen zu: »Ich habe ihn! Ich habe ihn! Die hundert Dollar gehören mir!« Alle vier stürzten sich auf Luther und verprügelten ihn nach Strich und Faden. Als er wehrlos auf der Straße lag, rief einer der Angreifer: »Wer hat Lust auf eine Partie Football? Ich schlage ein paar Field Goals * [* Field Goal: Bezeichnet im American Football den Versuch der angreifenden Mannschaft, den auf dem Boden stehenden Ball mit dem Fuß über die Torlatte durch die Torstangen zu kicken und damit Punkte zu erzielen.] vor!« Die anderen stießen begeistertes Gebrüll aus und traten ihm nacheinander mit dem Fuß mit voller Wucht ins Gesicht, als würden sie einen Ball aufs Tor schießen. Als sie genug hatten, ließen sie ihn für tot am Straßenrand liegen. Ein Motorradfahrer entdeckte ihn vierzig Minuten später und rief einen Rettungswagen.
»Nach mehreren Tagen im Koma erwachte Luther. Sein Gesicht war restlos zertrümmert«, erklärte uns Sylla. »Es gab mehrere rekonstruktive Operationsversuche, aber keiner konnte ihm sein früheres Aussehen zurückgeben. Zwei Monate lag er im Krankenhaus. Als er entlassen wurde, war sein Gesicht für immer entstellt, und das Sprechen fiel ihm schwer. Vietnam hatte sich natürlich erledigt, aber das galt auch für alles andere. Er verkroch sich den ganzen Tag im Haus, malte nicht mehr und hatte alles aufgegeben. Nach sechs Monaten löste Eleanore die Verlobung. Sie zog sogar aus Portland weg. Wer konnte es ihr verübeln? Sie war erst achtzehn und hatte keine Lust, sich ihr Leben lang aufopferungsvoll um Luther zu kümmern, der nur noch ein Schatten seiner selbst war und mit seinem Schicksal haderte.«
»Und seine Angreifer?«, fragte Gahalowood.
»Die wurden nie gefasst. Die Bande hatte in der Gegend offenbar schon öfter zugeschlagen und sich bei ihrem Field-Goals-Spielchen immer prächtig amüsiert. Aber bei Luther waren die Kerle besonders brutal vorgegangen, sie hätten ihn beinahe umgebracht. In allen Zeitungen wurde darüber berichtet, und die Polizei rief eine Großfahndung aus. Danach hat man nie wieder von ihnen gehört. Sie hatten wohl Angst, geschnappt zu werden.«
»Wie ist es Ihrem Bruder anschließend ergangen?«
»Luther ist zwei Jahre lang wie ein Gespenst durchs Haus geschlichen und hat keinen Finger mehr gerührt. Mein Vater ist so lange wie möglich in seiner Firma geblieben, und meine Mutter hat es so eingerichtet, dass sie ihre Tage außer Haus verbracht hat. Diese zwei Jahre waren kaum zu ertragen. Doch dann klingelte 1966 eines Tages jemand an der Tür.«
1966
Er zögerte, bevor er die Haustür entriegelte. Er konnte es nämlich nicht ertragen, wenn jemand ihn sah. Doch er war allein zu Hause, und es konnte wichtig sein. Als er die Tür öffnete, sah er einen sehr eleganten Mann in den Dreißigern vor sich.
»Hallo«, begrüßte ihn der Mann. »Tut mir leid, dass ich einfach so klingele, aber mein Wagen ist ungefähr fünfzig Meter von hier liegen geblieben. Du kennst dich nicht zufällig mit Autos aus?«
»Daf kommt drauf an«, erwiderte Luther.
»Nichts Schlimmes, nur ein Plattfuß. Aber ich komme mit dem Wagenheber nicht klar.«
Luther willigte ein, sich die Sache anzusehen. Der Wagen entpuppte sich als ein sündhaft teures Coupé. Es stand knapp hundert Meter vom Haus entfernt am Straßenrand. Ein Nagel hatte sich in den rechten Vorderreifen gebohrt. Der Wagenheber klemmte, weil er nicht gut geschmiert war. Trotzdem schaffte Luther es, damit das Rad zu wechseln.
»Ich bin beeindruckt«, sagte der Mann anerkennend. »Ein Glück, dass ich dir begegnet bin! Was machst du beruflich? Bist du Mechaniker?«
»Nichf. Früher habe ich gemalt. Aber dann hatte ich einen Unfall.«
»Und womit verdienst du deinen Lebensunterhalt?«
»Mit nichf.«
Der Mann musterte ihn kurz und streckte ihm dann die Hand hin. »Ich heiße Elijah Stern. Danke. Du hast was bei mir gut.«
»Lufer Caleb.«
»Freut mich, Luther.«
Sie betrachteten sich einen Moment schweigend. Dann stellte Stern die Frage, die ihn beschäftigte, seit Luther ihm die Tür geöffnet hatte: »Was ist mit deinem Gesicht passiert?«
»Haben Fie fon mal von der Field-Goalf-Bande
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