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Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Titel: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Dicker
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erzählte uns von ihrer Familie: von Jay, ihrem sanftmütigen Vater, und von ihrer Mutter Nadia, einer ehemaligen Miss Maine, die ihren Kindern den Sinn für das Schöne mitgegeben hatte. Luther war neun Jahre älter als Sylla. Beide waren sie in Portland geboren worden.
    Sie zeigte uns Fotos aus ihrer Kindheit: das Elternhaus, die Ferien in Colorado, das riesige Lager des väterlichen Unternehmens, in dem Luther und sie ganze Sommer verbracht hatten. Auf einer Reihe von Fotos aus dem Jahr 1963 war die Familie im Yosemite-Nationalpark zu sehen. Mit achtzehn war Luther ein schlanker, eleganter, gutaussehnder junger Mann gewesen. Dann sahen wir eine Aufnahme von Syllas zwanzigstem Geburtstag im Jahr 1974. Die Personen darauf waren gealtert: Jay, der stolze Familienvater, war mittlerweile um die sechzig und hatte einen Bauch, die Mutter hatte Falten im Gesicht, gegen die sie nicht mehr ankam, Luther war fast dreißig, sein Gesicht war entstellt.
    Lange betrachtete Sylla dieses letzte Bild. »Davor waren wir eine prächtige Familie«, meinte sie. »Davor waren wir so glücklich.«
    »Vor was?«, fragte Gahalowood.
    Sie sah ihn an und erwiderte, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt: »Vor dem Überfall.«
    »Was für ein Überfall?«, fragte Gahalowood. »Ich bin nicht im Bilde.«
    Sylla legte die beiden Fotos ihres Bruders nebeneinander. »Es passierte im Herbst nach unserem Urlaub im Yosemite-Nationalpark. Sehen Sie sich dieses Foto an … Sehen Sie, was für eine blendende Erscheinung er war! Luther war ein ganz besonderer junger Mann. Er liebte die Kunst und war ein begabter Maler. Nach der Highschool war er von der Kunstakademie in Portland aufgenommen worden. Alle sagten, dass er großes Talent hatte. Als der Vietnamkrieg ausbrach, wurde er zur Armee eingezogen, aber nach seiner Rückkehr wollte er dann Kunst studieren und heiraten. Verlobt war er bereits. Sie hieß Eleanore Smith, er kannte sie von der Highschool. Glauben Sie mir, er war ein glücklicher junger Mann – bis zu jenem Abend im September 1964.«
    »Was ist an jenem Abend passiert?«
    »Haben Sie schon mal von der Field-Goals-Bande gehört, Sergeant?«
    »Field-Goals - Bande? Nein, noch nie.«
    »So hat die Polizei eine Gruppe von Rowdys genannt, die damals die Gegend unsicher machte.«

    September 1964
    Es war gegen zweiundzwanzig Uhr. Luther hatte den Abend bei Eleanore verbracht und machte sich zu Fuß auf den Heimweg. Am nächsten Tag sollte er zur Armee einrücken. Eleanore und er hatten gerade beschlossen, dass sie nach seiner Rückkehr heiraten wollten. Sie hatten sich Treue gelobt und sich zum ersten Mal in Eleanores schmalem Jugendbett geliebt, während ihre Mutter ihnen in der Küche Plätzchen backte.
    Nachdem Luther das Haus der Smiths verlassen hatte, drehte er sich noch einige Male um. Im Schein der Straßenlaternen hatte er Eleanore auf der Vorderveranda stehen sehen: Sie hatte ihm weinend nachgewunken. Jetzt ging er die Lincoln Road entlang, eine zu dieser Uhrzeit wenig befahrene, schlecht beleuchtete Straße, aber es war der kürzeste Weg nach Hause. Drei Meilen Fußmarsch lagen vor ihm. Ein Auto fuhr an ihm vorbei; der Lichtkegel seiner Scheinwerfer leuchtete die Straße bis weit vor ihm aus. Kurz darauf kam hinter ihm ein zweites Fahrzeug angerast. Die offensichtlich ziemlich aufgekratzten Insassen schrien und johlten durchs Fenster, um ihn zu erschrecken. Als Luther nicht darauf reagierte, hielt der Wagen plötzlich ein Stück vor ihm mitten auf der Straße. Luther ging weiter. Was sonst hätte er tun sollen? Auf die andere Straßenseite wechseln?
    Als er am Wagen vorbeikam, fragte ihn der Fahrer: »He, du! Bist du von hier?«
    »Ja«, antwortete Luther.
    Er bekam einen Schwall Bier mitten ins Gesicht.
    »Ihr Typen aus Maine seid alle Hinterwäldler!«, brüllte der Fahrer.
    Die anderen Insassen johlten. Insgesamt waren sie zu viert, aber Luther konnte ihre Gesichter im Dunkeln nicht erkennen. Er schätzte sie jung ein, zwischen fünfundzwanzig und dreißig; sie wirkten betrunken und sehr aggressiv. Er bekam es mit der Angst und setzte mit klopfendem Herzen seinen Weg fort. Er schlug sich nicht gern und wollte keinen Streit.
    »He!«, pöbelte ihn der Fahrer an. »Wohin willst du, du kleiner Hinterwäldler?«
    Luther antwortete nicht, sondern legte einen Schritt zu.
    »Komm zurück! Na los! Wir werden dir zeigen, wie man mit kleinen Pissern wie dir umspringt!«
    Luther hörte, wie die Wagentüren aufgingen und der Fahrer

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