Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
dichten Wald von Side Creek entlangfuhr, offenbarte sich ihm das ganze Ausmaß der Suchaktion: Dutzende Einsatzfahrzeuge, ein Heer von Polizisten, Hundestaffeln und jede Menge Hektik. Er fuhr in die Stadtmitte und parkte kurz hinter dem Jachthafen in der Hauptstraße vor einem brechend vollen Diner. Jay ging hinein und setzte sich an die Theke. Eine bildhübsche junge Blondine brachte ihm den Kaffee. Für den Bruchteil einer Sekunde bildete er sich ein, sie zu kennen, obwohl er noch nie zuvor im Leben hier gewesen war. Er betrachtete sie, sie lächelte ihm zu, dann sah er ihr Namensschild. Darauf stand: Jenny . Und plötzlich begriff er: Die Frau auf einer Kohlezeichnung von Luther, die ihm besonders gut gefiel, das war sie! Er wusste genau, dass auf der Rückseite stand: Jenny Quinn, 1974 .
»Kann ich Ihnen behilflich sein, Sir?«, erkundigte sich Jenny. »Sie wirken so verloren.«
»Ich … Das ist ja entsetzlich, was hier passiert ist …«
»Wem sagen Sie das? Man weiß immer noch nicht, was mit der Kleinen passiert ist. Sie ist noch so jung, gerade mal fünfzehn! Ich kenne sie gut. Sie arbeitet samstags hier und heißt Nola Kellergan.«
»Wie … Wie heißt sie, haben Sie gesagt?«, stotterte Jay und hoffte, sich verhört zu haben.
»Nola. Nola Kellergan.«
Als er diesen Namen abermals hörte, war ihm, als täte sich der Boden unter seinen Füßen auf. Ihm wurde kotzübel. Er musste hier weg. Weit weg. Er legte zehn Dollar auf die Theke und verließ fluchtartig das Lokal.
Als er sein Haus betrat, sah Nadia ihrem Mann die Bestürzung sofort an. Sie eilte ihm entgegen, und er brach in ihren Armen regelrecht zusammen.
»Mein Gott, Jay, was ist passiert?«
»Weißt du noch, wie Luther und ich vor drei Wochen zusammen angeln gegangen sind?«
»Ja. Ihr habt dann diese ungenießbaren Forellenbarsche mitgebracht. Aber warum fragst du?«
Jay erzählte seiner Frau von jenem Tag. Es war Sonntag, der 10. August 1975, gewesen. Luther war am Abend zuvor nach Portland gekommen, weil sie frühmorgens zum Angeln an einen kleinen See fahren wollten. Es war ein schöner Tag gewesen, die Fische hatten gut angebissen, und sie hatten sich ein ruhiges Fleckchen ausgesucht, wo niemand sie störte. Sie hatten ein Bier getrunken und über das Leben geredet.
»Ich muff dir waf fagen, Dad«, hatte Luther gesagt. »Ich habe eine ganf befondere Frau kennengelernt.«
»Wirklich?«
»Wenn ich ef dir doch fage! Fie ift nicht wie die anderen. Wenn ich fie fehe, flägt mein Herz höher, und weift du waf? Fie liebt mich. Daf hat fie mir gefagt. Irgendwann werde ich fie dir vorftellen. Ich bin ficher, daff fie dir fehr gefallen wird.«
Jay hatte gelächelt. »Und hat die junge Frau auch einen Namen?«
»Nola, Dad. Fie heift Nola Kellergan.«
»Nola Kellergan ist der Name des Mädchens, das in Aurora entführt wurde!«, sagte Jay Caleb zu seiner Frau. »Ich glaube, Luther hat eine Riesendummheit begangen.«
In diesem Moment kam Sylla nach Hause. Sie hörte die Worte ihres Vaters. »Was soll das heißen?«, rief sie. »Was hat Luther getan?« Ihr Vater erklärte ihr die Lage und befahl ihr, keinem je etwas davon zu erzählen. Niemand sollte einen Zusammenhang zwischen Luther und Nola herstellen. Er suchte die ganze Woche nach seinem Sohn. Zuerst klapperte er Maine ab, dann die gesamte Küste von Kanada bis hinunter nach Massachusetts. Er suchte die entlegensten Winkel, die Seen und Hütten auf, die sein Sohn besonders mochte. Vielleicht hatte er sich dort in panischer Angst verkrochen wie ein von der Polizei des ganzen Landes gehetztes Tier. Doch er fand keine Spur von Luther. Abend für Abend wartete er auf ihn, horchte auf das leiseste Geräusch. Als die Polizei anrief, um ihn von Luthers Tod in Kenntnis zu setzen, wirkte er fast erleichtert. Er verlangte von Nadia und Sylla, nie wieder über die Angelegenheit zu sprechen, um das Andenken seines Sohns nicht zu beschmutzen.
Als Sylla ihren Bericht beendet hatte, fragte Gahalowood: »Glauben Sie, Ihr Bruder hatte etwas mit Nolas Entführung zu tun?«
»Sagen wir so: Sein Verhalten gegenüber Frauen war merkwürdig. Er malte sie gerne, vor allem Blondinen. Ich weiß, dass er sie manchmal auch heimlich an öffentlichen Plätzen zeichnete. Ich habe nie verstanden, was er daran fand … Ja, ich könnte mir vorstellen, dass da etwas mit diesem Mädchen war. Mein Vater hat geglaubt, dass Luther die Sicherung durchgebrannt ist, weil die Kleine sich ihm widersetzt hat, und dass er sie
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