Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
lieben werde.
12.
Der die Bilder malte
»Lernen Sie, Ihre Niederlagen zu lieben, Marcus, denn an ihnen werden Sie wachsen. Es werden Ihre Niederlagen sein, die Ihre Siege so köstlich machen.«
An dem Tag, an dem wir Luthers Schwester Sylla Caleb Mitchell in Portland, Maine, besuchten, war strahlendes Wetter. Es war Freitag, der 18. Juli 2008. Die Mitchells bewohnten ein schmuckes Haus in einem Wohnviertel nahe der Anhöhe, auf der das Zentrum der Stadt liegt. Sylla empfing uns in der Küche. Bei unserem Eintreffen standen auf dem Tisch zwei identische Kaffeetassen dampfend bereit, daneben lag ein Stoß Fotoalben.
Gahalowood hatte sie am Abend zuvor erreicht. Auf der Fahrt von Concord nach Portland erzählte er mir, dass er am Telefon den Eindruck gehabt habe, sie hätte mit seinem Anruf gerechnet. »Ich habe mich ihr als Polizist vorgestellt und gesagt, dass ich in den Mordfällen Deborah Cooper und Nola Kellergan ermittle und sie treffen müsse, um ihr ein paar Fragen zu stellen. Normalerweise werden die Menschen nervös, wenn sie den Ausdruck State Police hören. Sie wollen wissen, was los ist und was sie mit der Sache zu tun haben. Aber Sylla Mitchell hat einfach nur geantwortet: Kommen Sie morgen, wann Sie wollen. Ich bin den ganzen Tag zu Hause. Es ist wichtig, dass wir uns mal unterhalten .«
In ihrer Küche nahm sie uns gegenüber Platz. Sie war eine schöne Frau um die fünfzig, die sich gut gehalten hatte, eine elegante Erscheinung und zweifache Mutter. Ihr ebenfalls anwesender Mann blieb im Hintergrund stehen, als befürchtete er, er könnte aufdringlich wirken.
»Und?«, fragte sie. »Ist das alles wahr?«
»Was meinen Sie?«, fragte Gahalowood zurück.
»Was man in der Zeitung liest … All diese grauenhaften Dinge über dieses arme Mädchen aus Aurora.«
»Ja. Die Presse hat zwar alles ein wenig verzerrt, aber die Fakten entsprechen der Wahrheit. Mrs Mitchell, Sie haben gestern nicht den Eindruck gemacht, als hätte mein Anruf Sie überrascht …«
Sie wirkte bekümmert. »Wie ich Ihnen gestern schon am Telefon gesagt habe«, sagte sie, »standen in der Zeitung zwar keine Namen, aber ich habe auch so begriffen, dass mit E. S. Elijah Stern gemeint war. Und Luther war sein Fahrer.« Sie holte einen Zeitungsausschnitt hervor und las ihn laut vor, als könnte sie dadurch besser verstehen, was ihr unbegreiflich war. » E. S., einer der reichsten Männer von New Hampshire, schickte seinen Fahrer, um Nola im Stadtzentrum abzuholen und zu ihm nach Concord zu bringen. Dreiunddreißig Jahre später erzählt eine Freundin von Nola, die damals noch ein halbes Kind war, dass sie eines Tages ein solches Treffen zwischen Nola und dem Fahrer miterlebt habe und Nola eingestiegen sei, als ginge es zum Schafott. Die Zeugin beschrieb den Fahrer als furchteinflößenden Kerl mit kräftiger Statur und entstelltem Gesicht. Der Beschreibung nach kann das nur mein Bruder sein.« Sie verstummte und musterte uns erwartungsvoll.
Gahalowood legte die Karten auf den Tisch. »Wir haben bei Elijah Stern ein Gemälde gefunden, das Nola Kellergan mehr oder weniger nackt zeigt«, erklärte er. »Stern zufolge hat Ihr Bruder es gemalt. Offenbar hatte Nola eingewilligt, sich gegen Geld malen zu lassen. Luther holte sie in Aurora ab und fuhr sie zu Stern nach Concord. Was sich dort genau abspielte, entzieht sich unserer Kenntnis, aber auf jeden Fall hat Luther ein Bild von ihr gemalt.«
»Er malte viel!«, rief Sylla aus. »Er war sehr begabt und hätte als Maler Karriere machen können. Haben Sie … Haben Sie ihn im Verdacht, das Mädchen getötet zu haben?«
»Sagen wir, er steht auf der Liste der Verdächtigen«, erwiderte Gahalowood.
Eine Träne lief über Syllas Wange. »Wissen Sie, Sergeant, ich erinnere mich noch an den Tag, an dem er umgekommen ist. Es war ein Freitag Ende September. Ich war kurz vorher einundzwanzig geworden. Wir haben einen Anruf von der Polizei erhalten, in dem man uns mitteilte, dass Luther bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Ich erinnere mich noch, wie das Telefon geklingelt und meine Mutter abgehoben hat. Mein Vater und ich standen um sie herum. Meine Mutter hat den Anruf entgegengenommen und uns zugeflüstert: Es ist die Polizei . Sie hat aufmerksam zugehört und dann Okay gesagt. Diesen Augenblick werde ich nie vergessen. Da erzählt ihr ein Polizeibeamter am anderen Ende der Leitung, dass ihr Sohn tot ist. Er sagt etwas in der Art wie Madam, ich habe die traurige Pflicht, Ihnen
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