Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
ermordet hat. Als die Polizei angerufen hat, um uns zu sagen, dass Luther sich umgebracht hat, hat mein Vater lange geweint. Ich habe ihn zwischen den Tränen hindurch sagen hören: ›Es ist besser, dass er tot ist … Wenn ich ihn gefunden hätte … Ich glaube, ich hätte ihn eigenhändig getötet, um ihm den elektrischen Stuhl zu ersparen.‹«
Gahalowood nickte. Sein Blick fiel auf ein Notizbuch, das sich unter Luthers Sachen befand. »Ist das die Handschrift Ihres Bruders?«
»Ja, in dem Heft stehen Anweisungen für den Rosenschnitt … Luther kümmerte sich auch um Sterns Rosen. Ich weiß nicht, warum ich es aufgehoben habe.«
»Darf ich es mitnehmen?«, fragte Gahalowood.
»Ja, natürlich. Aber ich fürchte, es ist für Ihre Ermittlungen nicht sonderlich interessant. Ich habe darin geblättert: Es ist nur ein Handbuch für Gartenarbeiten.«
Gahalowood nickte. »Ich brauche eine Probe von der Handschrift Ihres Bruders, um sie untersuchen zu lassen, müssen Sie wissen.«
11.
Warten auf Nola
»Schlagen Sie auf diesen Sack ein, Marcus. Schlagen Sie zu, als ginge es um Ihr Leben. Sie müssen boxen, wie Sie schreiben, und schreiben, wie Sie boxen: Sie müssen alles geben, was in Ihnen steckt, weil jeder Boxkampf der letzte sein kann – genau wie jedes Buch.«
Der Sommer 2008 verlief in Amerika ziemlich ruhig. Das Gerangel um das Ticket fürs Präsidentenamt war schon Ende Juni, nach den Vorwahlen in Montana, mit der Ernennung Barack Obamas zum Kandidaten der Demokraten beigelegt worden. Die Republikaner hatten sich schon im Februar mehrheitlich auf John McCain geeinigt. Jetzt ging es darum, innerhalb der Parteien den Schulterschluss zu suchen. Die nächsten wichtigen Termine standen erst wieder ab Ende August an, denn dann würden die beiden großen historischen Parteien des Landes auf ihrem Nationalkonvent offiziell ihren Kandidaten für das Weiße Haus inthronisieren.
Diese relative Ruhe vor dem Wahlkampfsturm, der dann bis zum Election Day am 4. November toben sollte, rückte den Fall Harry Quebert in den Fokus der Medien und löste in der Öffentlichkeit unglaubliches Aufsehen aus. Es gab die »Quebert-Unterstützer« und die »Quebert-Gegner«, die Anhänger einer Verschwörungstheorie und jene, die der Meinung waren, dass Queberts Freilassung gegen Kaution einer finanziellen Einigung mit dem alten Kellergan geschuldet war. Seit dem Abdruck meiner Manuskriptseiten in der Presse war außerdem mein Buch in aller Munde: Alle Welt sprach nur noch vom »neuen Goldman, der diesen Herbst herauskommt«. Obwohl sein Name auf diesen Seiten nicht explizit genannt wurde, hatte Elijah Stern eine Verleumdungsklage angestrengt, um eine Veröffentlichung des Buchs zu unterbinden. David Kellergan hatte ebenfalls die Absicht bekundet, vor Gericht zu ziehen, und sich heftig gegen die Vorwürfe der Misshandlung seiner Tochter verwahrt. Zwei Menschen freuten sich über diesen Medienrummel ganz besonders: Barnaski und Roth.
Roy Barnaski, der sogar in New Hampshire Teams seiner New Yorker Anwälte stationiert hatte, um jede juristische Verwicklung parieren zu können, die die Erscheinung des Buchs verzögern würde, frohlockte: Die, wie nun zweifelsfrei feststand, durch seine Initiative an die Presse gelangten Auszüge garantierten ihm sensationelle Vorbestellungen und sicherten ihm die Aufmerksamkeit der Medien. Er vertrat die Auffassung, dass seine Vorgehensweise weder schlechter noch besser war als die der anderen; dass das Verlagswesen längst der noblen Kunst des Buchdrucks entrückt und dem kapitalistischen Wahn des 21. Jahrhunderts verfallen war; dass man neuerdings schon beim Schreiben eines Buchs den Absatz im Blick haben musste; dass es für den Verkauf eines Buchs erforderlich war, dass darüber geredet wurde, und dass man, damit darüber geredet wurde, das öffentliche Interesse auf sich ziehen musste, welches, sofern man es nicht mit Macht an sich riss, von anderen vereinnahmt wurde. Fressen oder gefressen werden.
Aus juristischer Sicht gab es kaum noch Zweifel, dass die Strafsache bald wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen würde. Benjamin Roth stand kurz davor, zum »Anwalt des Jahres« gekürt und eine nationale Berühmtheit zu werden. Er nahm sämtliche Interviewanfragen an und trieb sich einen Großteil seiner Zeit in lokalen Fernsehstudios und Radiostationen herum. Er machte alles, Hauptsache, es ging um ihn. »Stellen Sie sich vor, ich kann jetzt tausend Dollar pro Stunde in Rechnung stellen«,
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