Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
aufbrechen.«
Der Abend dämmerte. Es war der 30. August 1975. Zwei Gestalten schlüpften aus dem Motelzimmer, eilten die Treppe zum Parkplatz hinunter und stiegen in einen schwarzen Chevrolet Monte Carlo. Der Wagen fuhr in nördlicher Richtung auf die Route 1. Zügig strebte er dem Horizont entgegen. Schon bald waren seine Umrisse nicht mehr zu erkennen: Er wurde erst zu einem schwarzen Fleck, dann zu einem kleinen Punkt. Einen Augenblick lang konnte man noch den winzigen Lichtpunkt der Scheinwerfer sehen, dann war er ganz verschwunden.
Sie fuhren dem Leben entgegen.
DRITTER TEIL
Das Paradies der Schriftsteller
Erscheinen des Buchs
5.
Die Kleine, die Amerika gerührt hat
»Mit jedem Buch, Marcus, beginnt ein neues Leben. Aber es ist auch ein Moment großer Selbstlosigkeit: Sie geben denen, die mehr über Sie erfahren wollen, einen Teil von sich preis. Die einen werden Sie lieben, die anderen hassen. Die einen werden Sie in den Himmel jubeln, die anderen werden Sie verachten. Manche werden neidisch sein, andere interessiert. Für diese Menschen schreiben Sie nicht, Marcus, sondern für all jene, die in ihrem Alltag dank Marcus Goldman ein paar schöne Stunden verleben. Jetzt werden Sie sagen, dass das nicht viel ist, dabei ist es gar nicht so schlecht. Es gibt auch Schriftsteller, die wollen die Welt verändern. Aber wer kann das schon?«
Das Buch war in aller Munde. Ich konnte in New York nicht mehr in Ruhe durch die Straßen schlendern oder durch den Central Park joggen, ohne dass Spaziergänger mich erkannten und ausriefen: »He, das ist Goldman! Der Schriftsteller!« Manche hefteten sich mir sogar im Laufschritt an die Fersen, um mir die Fragen zu stellen, die sie so beschäftigten: »Was Sie da in Ihrem Buch schreiben, ist das wahr? Hat Harry Quebert das wirklich getan?« In meinem Stammcafé im West Village schreckten manche Gäste nicht einmal davor zurück, sich an meinen Tisch zu setzen und mir ein Gespräch aufzudrängen: »Ich lese gerade Ihr Buch, Mr Goldman. Ich kann es einfach nicht aus der Hand legen! Das erste war ja schon gut, aber das hier …! Hat man wirklich eine Million Dollar abgedrückt, damit Sie es schreiben? Wie alt sind Sie denn? Knapp dreißig? Dreißig Jahre und haben schon so viel Kohle gescheffelt!« Sogar meinen Doorman hatte ich dabei ertappt, wie er immer dann, wenn er nicht gerade die Tür aufhalten musste, die Nase in das Buch steckte, und kaum hatte er es ausgelesen, nagelte er mich vor dem Fahrstuhl fest, um mir sein Herz auszuschütten: »Das ist also mit Nola Kellergan passiert! Wie grauenhaft! Wie kann man nur so etwas tun? Sagen Sie, Mr Goldman, wie ist so etwas möglich?«
Vom Erscheinungstermin an stand Der Fall Harry Quebert im ganzen Land auf Platz 1 der Bestsellerliste und versprach, das meistverkaufte Buch des Jahres auf dem amerikanischen Kontinent zu werden. Überall wurde darüber berichtet: im Fernsehen, im Radio, in den Zeitungen. Auch wenn die Kritiker auf einen Flop gelauert hatten, überhäuften sie mich nun mit Lob. Es hieß, mein neuer Roman sei ein großer Wurf.
Sofort nach Publikation des Buchs war ich zu einem Werbemarathon aufgebrochen, man hatte mich innerhalb von nur zwei Wochen in sämtliche Ecken des Landes gezerrt. Das war dem bevorstehenden Präsidentenwechsel geschuldet. Barnaski war nämlich der Meinung, dass wir mehr Zeit nicht bekommen würden, bevor sich wegen der Wahl am 4. November alle Blicke auf Washington richten würden. Nach der Rückkehr nach New York hatte ich noch in atemberaubendem Tempo ein Fernsehstudio nach dem anderen abgeklappert, um dem allgemeinen Hype Genüge zu tun, von dem auch das Haus meiner Eltern nicht verschont geblieben war. Ständig hatten Journalisten und Neugierige an ihrer Tür geklingelt. Um ihnen ein wenig Ruhe zu verschaffen, hatte ich ihnen ein Wohnmobil geschenkt, und sie beschlossen, sich damit einen alten Traum zu erfüllen und zuerst nach Chicago und von dort aus die Route 66 bis nach Kalifornien hinunterzufahren.
Aufgrund eines in der New York Times erschienenen Artikels wurde Nola nur noch die Kleine, die Amerika gerührt hat genannt. Die Leserbriefe, die ich erhielt, legten durch die Bank Zeugnis von diesem Gefühl ab: Allen war sie zu Herzen gegangen, die Geschichte dieses unglücklichen, misshandelten Mädchens, das durch seine Begegnung mit Harry Quebert wieder lächeln konnte und das mit seinen fünfzehn Jahren für ihn gekämpft und es ihm ermöglicht hatte, Der Ursprung des Übels zu
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