Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
schreiben. Einige Literaturwissenschaftler äußerten nun die Auffassung, dass sein Buch erst durch das meine richtig gelesen werden konnte, und machten sich für eine neue Lesart stark, in der Nola nicht mehr für die unmögliche Liebe, sondern für die Allmacht des Gefühls stand. Das führte dazu, dass die Verkaufszahlen von Der Ursprung des Übels , das vier Monate zuvor aus nahezu allen Buchhandlungen des Landes verbannt worden war, wieder in die Höhe schnellten. Für Weihnachten bereitete Barnaskis Marketingteam gerade ein Geschenkset in limitierter Auflage vor, das Der Ursprung des Übels, Der Fall Harry Quebert sowie eine Textanalyse aus der Feder eines gewissen François Lancaster enthielt.
Von Harry hatte ich, seit ich ihn im Sea Side Motel zurückgelassen hatte, nichts mehr gehört. Zwar hatte ich unzählige Male versucht, ihn anzurufen, aber sein Handy war ausgeschaltet, und wenn ich im Motel anrief und darum bat, mit Zimmer 8 verbunden zu werden, klingelte das Telefon endlos, ohne dass jemand abnahm. Überhaupt hatte ich zu niemandem in Aurora Kontakt, was vielleicht auch besser war: Meine Neugier, wie das Buch dort aufgenommen wurde, hielt sich in Grenzen. Von der Rechtsabteilung von Schmid & Hanson hatte ich lediglich erfahren, dass Elijah Stern den Verlag mit aller Macht vor Gericht zerren wollte, weil er die ihn betreffenden Passagen für rufschädigend hielt, insbesondere jene, in denen ich mir die Frage stellte, weshalb er nicht nur Luthers Wunsch, Nola nackt malen zu dürfen, nachgegeben, sondern der Polizei gegenüber obendrein verschwiegen hatte, dass sein schwarzer Monte Carlo verschwunden war. Ich hatte ihn zwar vor Erscheinen des Buchs angerufen, um ihn nach seiner Sicht der Dinge befragen, doch er hatte sich nicht zu einer Antwort herbeigelassen.
Ab der dritten Oktoberwoche nahmen, wie Barnaski es vorhergesagt hatte, die Präsidentschaftswahlen das Medieninteresse für sich in Beschlag. Die Anfragen an mich gingen drastisch zurück, worüber ich eine gewisse Erleichterung empfand. Ich hatte zwei anstrengende Jahre hinter mir: mein erster Erfolg, die Schriftstellerkrankheit, dann, schließlich, das zweite Buch. Mein Geist war endlich zur Ruhe gekommen, und ich verspürte das dringende Bedürfnis, eine Weile Urlaub zu machen. Da ich nicht allein verreisen und mich bei Douglas für seine Unterstützung erkenntlich zeigen wollte, erstand ich zwei Flugtickets für die Bahamas: Urlaub unter Kumpeln, wie ich es seit der Highschool nicht mehr gemacht hatte. Ich wollte ihn damit überraschen, als er eines Abends zu mir kam, um sich mit mir eine Sportsendung anzuschauen. Zu meiner großen Enttäuschung gab er mir einen Korb. »Nette Idee«, sagte er, »aber zu der Zeit wollte ich mit Kelly in die Karibik.«
»Mit Kelly? Du bist noch mit ihr zusammen?«
»Ja, klar. Wusstest du das nicht? Wir wollen uns verloben. Ich möchte dort um ihre Hand anhalten.«
»Oh, großartig! Ich freue mich wirklich für euch. Herzlichen Glückwunsch!«
Anscheinend sah ich ein wenig geknickt aus, denn er sagte: »Marc, du hast alles, was man sich im Leben nur wünschen kann. Du solltest nicht länger allein sein.«
Ich nickte zustimmend. »Es ist nur so, dass … Ich habe schon seit Ewigkeiten kein Date mehr gehabt«, rechtfertigte ich mich.
Er grinste. »Mach dir deswegen keinen Kopf.«
Diese Unterhaltung führte dazu, dass ich am übernächsten Tag, Donnerstag, 23. Oktober 2008, dem Abend, an dem alles anders kommen sollte, eine Verabredung mit Lydia Gloor hatte. Douglas hatte das für mich arrangiert, weil er von ihrem Agenten erfahren hatte, dass sie immer noch auf mich stand. Er hatte mich überredet, sie anzurufen, und wir hatten uns in einer Bar in Soho verabredet. Um Punkt neunzehn Uhr kam Douglas vorbei, um mich moralisch zu unterstützen.
»Du bist noch nicht umgezogen?«, stellte er fest, als ich ihm mit nacktem Oberkörper die Tür öffnete.
»Ich kann mich nicht entscheiden, welches Hemd ich anziehen soll«, entgegnete ich und schwenkte zwei Kleiderbügel vor mir.
»Nimm das blaue, das steht dir bestimmt sehr gut.«
»Bist du dir sicher, dass es kein Fehler ist, mit Lydia auszugehen, Doug?«
»Du sollst sie ja nicht gleich heiraten. Du gehst einfach nur mit einem hübschen Mädchen, das dir gefällt und dem du gefällst, ein Glas trinken. Ihr werdet schon merken, ob es zwischen euch noch knistert.«
»Und was machen wir nach dem Drink?«
»Ich habe bei einem angesagten Italiener auf deinen
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